: Nie abhängig und nie Werkzeug
In ihren Erinnerungen analysiert die italienische Marxistin Rossana Rossanda in glasklarer Sprache die Versäumnisse der Kommunistischen Partei Italiens
VON JESSICA KRAATZ MAGRI
Die unzähligen Opfer des Realsozialismus und ein implodierendes Wirtschaftssystem haben den Sozialismus gnadenlos Lügen gestraft. Doch die historische Bedeutung der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert ist damit lange nicht geklärt. Wie sieht es aus – das positive Erbe der alten für die neue Linke?
Diese Frage ist hierzulande durch die konkrete historische Erfahrung einer sozialistischen Diktatur belastet. Umso anregender sind daher die Erinnerungen der italienischen Marxistin Rossana Rossanda, die nun auch auf Deutsch vorliegen. Rossanda ist international vor allem als Mitbegründerin und führender Kopf der Zeitung Il Manifesto bekannt. Ihre analytische Strenge, ihre moralische und politische Integrität machten sie in den 1970er-Jahren außerdem zu einer der wenigen weiblichen intellektuellen Galionsfiguren der italienischen und europäischen Linken.
Nichts liegt Rossanda aber ferner als ihre Überhöhung zum Mythos. Ihr Lebensbericht ist eine strenge Selbstbefragung, eine schonungslose Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe des sozialistischen Projekts – aber auch der dezidierte und trotzdem differenzierte Versuch, ein kommunistisches Gedächtnis zu verteidigen und eine kommunistische Identität zu bewahren. „Wie kann man es ertragen, dass die meisten Menschen auf der Erde nicht einmal die Chance haben, darüber nachzudenken, wer sie sind und was sie werden wollen, weil das ganze Abenteuer des Lebens von Anfang an ruiniert ist?“ Rossandas Entscheidung für den Kommunismus ist moralischer Natur, dennoch durchaus rational. Keine andere politische Kraft als die Kommunisten habe die „Unvermeidlichkeit des Unmenschlichen“ entschiedener verneint.
Rossanda befriedigt keinen politischen Voyeurismus: Sie berichtet uns nicht von geheimen Entscheidungsabläufen hinter den Kulissen der Macht. Der Ton ist intim, die Sprache glasklar. Rossanda erzählt Politik als eine education sentimentale (Erziehung des Herzens). Ihre Gedächtnisreise ist die Geschichte einer 1924 geborenen Frau aus bürgerlichem Haus, deren Passion der Literatur, der Philosophie, vor allem aber der Kunstgeschichte galt und die von Krieg und Faschismus in die Politik geschleudert wurde.
Im Jahr 1943 trat sie als junge Studentin der Kommunistischen Partei bei, um mitzumachen beim Aufbau der Demokratie. Rossanda wurde Stadträtin, Abgeordnete, Mitglied des Zentralkomitees und schließlich Vorsitzende der Kulturkommission jener Kommunistischen Partei Italiens (KPI), die unter der Führung von Palmiro Togliatti zur größten und auch zur liberalsten kommunistischen Partei Westeuropas avancierte.
Wie wichtig die KPI für Italiens Demokratie gewesen ist, lässt sich aus Rossandas Buch lernen. Sie beschreibt die Partei als den privilegierten Ort einer geradezu physischen und emotionalen Ergründung der Gesellschaft. „Sie war das Band, um ein Netz von Beziehungen zu knüpfen, die ein Einzelner nie zustande gebracht hätte, wir erlebten unterschiedliche Welten und Menschen, die gleich sein wollten, aber nie gleichgeschaltet, nie abhängig, nie Ware und nie Werkzeug.“ Immer wieder geht das erzählende Ich in ein Wir über. Die Partei bildet den Fluchtpunkt einer kollektiven Identität, während die Politik einer existenziellen Erfahrung gleichkommt – nie dient sie der Karriere.
Natürlich war diese Partei auch ein träger, intriganter, männerdominierter Machtapparat. Gegen diesen begehrte Rossanda in den 60er-Jahren immer stärker auf. Ihre Idee eines demokratischen, aber radikalen linken Gesellschaftsprojektes ließ sich mit der Reformpolitik der KPI-Führung nicht länger vereinbaren. So gründete sie 1969 mit anderen Parteilinken Il Manifesto und wurde dafür aus der KPI ausgeschlossen. Schade, dass Rossanda die Geschichte, die folgte, ausspart. So erfahren wir nicht, was aus dem Manifesto wurde, das eine Brücke zwischen den neuen Ideen der aufbrechenden 68er und der „Weisheit der alten Linken“ schlagen wollte und zum Vorbild für ähnliche Zeitungsgründungen (Libération, taz) wurde. Auch die entscheidenden bleiernen 70er-Jahre bleiben außen vor.
Dennoch werfen ihre Erinnerungen aktuelle Fragen auf. So glaubt Rossanda heute noch, dass es einer großen und organisierten Bewegung, ja einer Partei bedarf, um ein Land zu verändern. Auch an der Vereinbarkeit von Utopie und Kritik hält sie fest. Trotz persönlicher und politischer Enttäuschungen bleibt die Autorin in der historischen Analyse loyal. Sie verschweigt nicht die feige und politisch fatale Selbstbezogenheit der KPI, die etwa vom Arbeiteraufstand in der DDR 1953 nicht viel wissen wollte und sowohl die Stalin’schen Schrecken als auch die Ereignisse in Ungarn verdrängte. Aber sie verteidigt Togliattis Partei als politisch und gesellschaftlich progressive Kraft: „Ob es genehm ist oder nicht, dort, wo sie nicht an der Macht war, bewirkte die kommunistische Bewegung einen mächtigen Ansporn zur Demokratisierung.“
Manchmal droht man sich im Dickicht der vielen genannten Personen und der Anspielungen auf weniger bekannte Ereignisse zu verirren. Die für die deutsche Ausgabe zusammengestellte Chronik ist sehr nützlich, doch böte ein Glossar noch mehr Orientierungshilfe. Nichts desto trotz gelingt Rossanda ein feinsinniges, absolut lesenswertes Werk über die Nachkriegsgeschichte Italiens, das die Bedeutung des Kommunismus auf europäischer Ebene in den Blick rückt und dabei das Jetzt nie aus dem Auge verliert.
Rossana Rossanda: „Die Tochter des 20. Jahrhunderts“. Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Friederike Hausmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007, 480 Seiten, 26,80 Euro