Das Problem Eskalation

UKRAINE Russland führt in der Ukraine einen verdeckten, „hybriden“ Krieg. Dem ist mit Eskalation oder gar Aufrüstung aber nicht beizukommen

■ studierte Politische Wissenschaften, Soziologie und Philosophie in Bonn. Ehrhart, Jahrgang 1955, ist seit 1989 wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Das Minsker Abkommen ist brüchig, die Gefahr einer weiteren Eskalation in der Ukraine nicht gebannt. Doch wer will eigentlich was in diesem Krieg?

Die politische Führung der Ukraine will die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes und strebt in die westlichen Institutionen. Die politische Führung der Aufständischen will einen politischen Sonderstatus für die Ostukraine und strebt eine enge Bindung an Moskau an.

In der Ukraine kämpfen die ukrainischen Sicherheitskräfte in einer „Antiterroroperation“. Involviert sind neben der Armee Einheiten des Innen- und des Katastrophenschutzministeriums, des Grenzschutzes, der Nationalgarde, der Territorialverteidigung und private paramilitärische Einheiten (Rechter Sektor, Söldner, Freiwillige). Die Hälfte der 44 Bataillone der Territorialstreitkräfte werden von Oligarchen bezahlt, darunter auch ausländische private Militärdienstleister. Auf der Gegenseite stehen aufständische Ukrainer, russische Freiwillige und Kämpfer aus dem Kaukasus. Sie werden politisch, propagandistisch und militärisch von Russland unterstützt. Was aber will Russland?

„Informationsoperationen“

Wichtige Dokumente für eine Einschätzung sind die russischen Militärstrategien und die Äußerungen Putins. Seit einiger Zeit wird die als expansiv wahrgenommene Nato an erster Stelle der aufgeführten militärischen Gefahren genannt. Als größte innere militärische Gefahr wird die innenpolitische Destabilisierung bezeichnet. Darüber hinaus hat Putin die Krim als integralen Bestandteil Russland bezeichnet und beansprucht ein Mitspracherecht über die sicherheitspolitische Zukunft der Ukraine, weil diese auch die Sicherheit Russlands berühre. Subjektiv fühlt sich Putin bedroht, objektiv greift er zweifellos zu den falschen Mitteln.

Denn er nutzt das inakzeptable Mittel der hybriden beziehungsweise unkonventionellen Kriegsführung. Eine solche Vorgehensweise ist nicht neu. Das verdeckte Schüren von Aufständen durch äußere Mächte ist so alt wie die Geschichte des Krieges und soll zu einem Machtwechsel im anderen Land führen. Nach russischer Militärdoktrin sind moderne Konflikte gekennzeichnet durch die integrierte Nutzung militärischer, politischer, wirtschaftlicher, informationeller und anderer nichtmilitärischer Mittel, die mit Hilfe des Protestpotenzials einer Bevölkerung und Spezialkräften eingesetzt werden. Dementsprechend operiert Russland weitgehend in einer Grauzone unterhalb des eigenen offenen direkten Gewaltmitteleinsatzes bei gleichzeitiger Unterstützung des Gewaltmitteleinsatzes der Aufständischen. Das vielleicht Neue an der russischen Variante hybrider Kriegführung ist ihre enge Verbindung mit nach innen und außen gerichteten „Informationsoperationen“, also Propaganda, die das russische Narrativ stützen.

Rein defensive Waffen?

Hybrider Kriegführung ist schwer beizukommen, weil sie lange auf kleiner Flamme durchgehalten werden kann. Sie ist gefährlich, weil sie eskalationsträchtig ist. Die bisherige Antwort des Westens ist maßvoll, weil sie sich weitgehend auf politische und wirtschaftliche Sanktionen beschränkt. Darüber hinaus hat die Nato auf ihrem Gipfel in Wales Maßnahmen beschlossen, die der Stärkung der kollektiven Verteidigung ihrer östlichen Mitglieder dienen. Sie erhöht die (rotierende)Truppenpräsenz in der Region, verbessert die strukturellen Voraussetzungen für verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit und stellt eine sehr schnelle Eingreiftruppe bestehend aus Land-, Luft-, See- und Spezialkräften auf. Zudem unterstützt sie die Ukraine mit Ausbildung und gemeinsamen Manövern. Einige Nato-Staaten liefern auch nichtletale Waffen. Schließlich kämpfen auf ukrainischer Seite von den Oligarchen bezahlte private „Militärdienstleister“, denn die ukrainischen Sicherheitskräfte sind schwach. Liegt es da nicht nahe, sie mit Waffen und Kriegsgerät zu unterstützen?

Wer diese Frage bejaht, sollte das Problem der Eskalationsdominanz bedenken. Der Begriff stammt aus der militärischen Abschreckungsstrategie und beschreibt eine glaubhafte und skalierbare Antwort mit konventionellen, unkonventionellen und nuklearen Mittel auf eine Aggression. Sollte der Gegner mit den gleichen Mittel antworten, dann müsste die nächste Stufe der Eskalation umgesetzt und glaubhaft kommuniziert werden, dass man gewillt und befähigt ist, weiter zu eskalieren. Wer hat in der Ukraine die Eskalationsdominanz?

Die nächste Stufe wäre die von Experten geforderte Lieferung tödlicher, aber defensiver Waffen. Aber gibt es rein defensive Waffen? Natürlich wären etwa die vorgeschlagenen Radargeräte zur Detektion feindlicher Artillerie zur Verteidigung hilfreich, aber eben auch für die nächste eigene Offensive. Als nächster Schritt wäre die Lieferung offensiver Waffen denkbar, erst aus alten sowjetischen Beständen, dann vielleicht modernere, eventuell mit Militärausbildern. Ein weiterer Schritt wäre die Ausbildung im Kampf, wie in Afghanistan praktiziert. Spätestens dann bestünde die Gefahr, auch auf russische Soldaten zu stoßen (camoufliert oder nicht).

Game Changer

Anstatt sich auf eine weitere Eskalation einzulassen oder einen jahrelangen Gewaltkonflikt auf Sparflamme hinzunehmen, sollte der Westen seinen Ansatz grundlegend überdenken. Erforderlich ist ein „game changer“, der die festgefahrene politisch-strategische Situation grundlegend ändert. Drei Dinge sollte man Moskau anbieten:

1. Offenlegen und Kenntnisnahme aller Klagen und Interessen der beteiligten Akteure.

Hybrider Kriegführung ist schwer beizukommen, weil sie lange auf kleiner Flamme durchgehalten werden kann

2. Akzeptieren der wechselseitigen Sicherheitsbedürfnisse und

3. allseitige Garantie für die Freiheit der Eigenentwicklung der Ukraine auf der Grundlage der Bündnisfreiheit.

Dieser Ansatz folgt dem Grundsatz „security first“ und garantiert die freie Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft.

Er dürfte Hardlinern und Ideologen auf beiden Seiten nicht gefallen. Zudem löst er das Krimproblem nicht. Gleichwohl könnte er verhindern, dass aus einem schlimmen Krieg in der Ukraine ein noch schlimmerer Krieg um die Ukraine wird. HANS-GEORG EHRHART