: Zeit für einen Paradigmenwechsel
PSYCHIATRIE Berlin muss das Psychisch-Kranken-Gesetz reformieren – und lässt sich Zeit dafür. Dabei würde das neue Gesetz teils gravierende Veränderungen bedeuten. Betroffenenverbände kritisieren Mängel im System
■ Laut Verfassungsgericht ist eine Zwangsbehandlung nur dann zulässig, wenn die betroffene Person aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage ist zu erkennen, dass die Behandlung notwendig ist. Über eine Zwangsbehandlung entscheiden darf nicht die behandelnde Einrichtung, sondern externe Betreuer_innen oder ein Gericht.
■ Das Berliner „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ (PsychKG) regelt die Hilfen für psychisch Erkrankte, Zwangsunterbringungen und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, aber auch den Maßregelvollzug und die Zuständigkeiten von Behörden.
■ Psychisch Erkrankte gelten im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) als Menschen mit Behinderungen und fallen dementsprechend unter deren Schutz. Die BRK garantiert unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekte anerkannt werden, sie untersagt jede Form grausamer und erniedrigender Behandlung und garantiert die Unversehrtheit der Person. In Deutschland ist die BRK seit 2009 in Kraft. (hr)
VON HILKE RUSCH
Eine alltägliche Situation: Nachdem Ilse K. versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, wurde sie von der offenen auf die geschlossene psychiatrische Station verlegt. Als sie sich weigerte, weiter ein starkes Beruhigungsmittel zu nehmen und die Situation daraufhin eskalierte, wurde Ilse K. von vier Menschen festgehalten: Das Medikament wurde zwangsweise verabreicht und Ilse K. über mehrere Stunden fixiert – eine rechtliche Grauzone für Pfleger_innen und Patienten_innen.
Dabei urteilte bereits 2011 das Verfassungsgericht, dass die Regelungen für eine medikamentöse Zwangsbehandlung im rheinland-pfälzischen Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verstießen. Mit dieser Grundsatzentscheidung war klar, dass auch eine Reform des Berliner „Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ – kurz: PsychKG – angesagt war (siehe Infos im Kasten).
Monatelang geschah nichts
Eine grundlegende Überarbeitung war bereits in Planung, doch umgesetzt wurde die bis heute nicht. Seit dem letzten Jahr gibt es immerhin einen Entwurf der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, auch Stellungnahmen von Fachgremien. Und eine Arbeitsgruppe des Landespsychiatriebeirates beriet im Sommer über Kritikpunkte am Entwurf. Doch dann geschah monatelang nichts.
Deshalb wandte sich Anfang Februar eine eher ungewöhnliche Allianz mit einem offenen Brief an Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU), unterschrieben unter anderem von der Arbeitsgemeinschaft der Chefärztinnen und Chefärzte Psychiatrischer Abteilungen, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Landesverband Angehörige psychisch Kranker. Neben anderen Problemen geht es um eine große Rechtsunsicherheit in der Praxis. Derzeit könnten Menschen, die nach dem PsychKG untergebracht sind und eine Behandlung ablehnten, nicht behandelt werden, heißt es in dem Schreiben. Damit ausreichend Zeit zur Diskussion des Entwurfs bleibt, solle er möglichst bald dem Abgeordnetenhaus vorgelegt werden. Die Senatsverwaltung will das jedoch erst im Herbst tun.
Kein guter Zeitpunkt, findet Heiko Thomas, Mitunterzeichner und gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Im Herbst stehen die Haushaltsberatungen an – auch der Wahlkampf setze ein. Thomas treibt die Sorge, die Reform könne sich um weitere Jahre verschieben.
Dabei gibt es erheblichen Diskussionsbedarf. Im Entwurf vom Stand April 2014 sind beispielsweise die Aufgaben und Befugnisse der Sozialpsychiatrischen Dienste (SpD) teilweise neu definiert. Die SpD sind für Hilfen im ambulanten Bereich zuständig. Nun ist vorgesehen, dass die SpD Wohnungen psychisch Erkrankter gegen deren Willen betreten dürfen, wenn es Anzeichen einer Gefahr für Leben oder Gesundheit von Betroffenen oder Dritten gibt. Das war bislang der Polizei vorbehalten. Der Plan stößt auf großen Widerstand.
„Wenn Beamte vor der Tür stehen, ist das für die Betroffenen oft hilfreich, um die Situation zu verstehen“, erklärt Petra Rossmanith von der Berliner Psychiatriebeschwerdestelle. Die Stelle vermittelt seit fast vier Jahren bei Konflikten zwischen Psychiatrieerfahrenen und Einrichtungen. „Die vorgesehene Änderung würde große Unsicherheit schaffen“, glaubt Rossmanith, denn bislang gebe es durch die Polizei ein klares Signal, dass sich die Situation verschärft hat. Betroffene hätten so die Möglichkeit einzulenken.
Auch Reinhard Wojke, Mitglied im Landespsychiatriebeirat und Vorstandsmitglied der Berliner Organisation Psychiatrie-Betroffener, lehnt die geplanten Befugnisse der SpD ab. Kritik übt er an einer erkennungsdienstlichen Behandlung aller zwangsweise untergebrachten Menschen, die er für kriminalisierend hält. Wichtig sind Wojke vor allem die Regelungen zu Zwangsmaßnahmen. „Zwang heilt nicht, sondern traumatisiert“, sagt er. „Die Dauer von Fixierungen muss eindeutig geregelt werden, länger als zwölf Stunden darf so etwas nicht dauern.“
UNO schließt Zwang aus
Auch Rossmanith plädiert für klare zeitliche Grenzen: „Das ist allein deshalb wichtig, um Betroffenen nicht das Gefühl von Willkürmaßnahmen zu vermitteln.“ Und beide Fachleute sind sich einig, dass über alle angewandten Zwangsmaßnahmen verpflichtend Statistiken geführt werden sollten.
Alexander Spies, behindertenpolitischer Sprecher der Piraten-Fraktion, hat gegenüber Zwangsmaßnahmen grundsätzliche Bedenken. „Die UN-Behindertenrechtskonvention schließt jede Form von Zwang aus, also auch Fixierungen oder eine Medikamentengabe gegen den Willen.“
Die geplanten Besuchskommissionen stoßen hingegen auf einhellige Zustimmung. „Bislang“, so Rossmanith, „gibt es keine externe Institution, die prüft, ob in den psychiatrischen Einrichtungen die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden. Und sei es nur der Zugang zum Internet oder abschließbare Schränke.“
Spies findet es allerdings problematisch, dass die Senatsverwaltung und der Landespsychiatriebeirat die Mitglieder der Kommissionen bestimmen sollen: Im Beirat sitzen derzeit überwiegend Vertreter_innen von Krankenkassen und Kliniken sowie ärztliches Personal. „Es kann nicht sein, dass Kliniken darüber entscheiden, wer ihre Arbeit kontrolliert“, so Spies.
Eigentlich aber geht die Kritik bei allen über den Gesetzentwurf hinaus. „Nötig ist ein Paradigmenwechsel im gesamten psychiatrischen System“, meint auch Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte. Diese war vom Senat beauftragt worden zu prüfen, ob der Entwurf der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht.
Die psychiatrische Versorgung hält Aichele allgemein für schlecht. Psychotherapeutische Angebote gebe es viel zu wenig und Krisensituationen werden nur selten durch intensive Gespräche gelöst. „Viel zu häufig wird auf zwangsweise verabreichte Medikamente gesetzt“, meint er, „nur wenige Einrichtungen versuchen, Zwang ganz zu vermeiden. Überzeugende Konzepte verfolgen dabei aber auch nicht alle.“ Den Soteria-Ansatz beispielsweise findet Aichele überzeugend. Dieser arbeitet mit offenen Stationen, freiwilliger Medikamentengabe und weniger Zwangsmaßnahmen.
Beim PsychKG hält Aichele den Gedanken der Gefahrenabwehr für besonders problematisch: „Die PsychKGs sollten sich von ihren Ursprüngen im Polizeirecht lösen. Es sollte nicht darum gehen, was man Menschen alles zumuten kann, sondern wie Menschen gesund werden und wie ihre Grundrechte geschützt werden können.“
Zustand selbst benennen
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das sogenannte Weglaufhaus. „In unserer Einrichtung soll seltsames Verhalten nicht ‚weggemacht‘ werden, sondern seinen Raum bekommen“, erklärt die Sozialarbeiterin Katharina Kunze.
Das antipsychiatrische Weglaufhaus ist Anlaufpunkt für Obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen mit Psychiatrieerfahrung. Betroffene benennen hier ihren Zustand selber, Krisen gelten nicht als Krankheit. Gegenüber Psychopharmaka hat das Haus eine ablehnende Haltung. Und noch etwas ist anders: Im Team arbeiten zum großen Teil Menschen, die selber psychiatrieerfahren sind.
Das zeigt: Es gibt sehr unterschiedliche Konzepte. Nötig ist eine gesellschaftliche Diskussion über das psychiatrische System. Dafür braucht es jedoch Zeit und Ruhe. Ob das im Herbst gegeben ist, bleibt fraglich.