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Archiv-Artikel

Ein Todesarten-Projekt

Die Traumata von NS-Verbrechen und Weltkrieg im Roman von Pierre Péju

Deutschland, Sommer 1963. Der französische Schüler und Eigenbrötler Paul verbringt einen Sprachurlaub im kleinen Provinznest Kehlstein. Die malerische Kleinstadt scheint vom Krieg verschont geblieben zu sein. Kein Haus zerbombt, alles wirkt idyllisch. Doch natürlich trügt der Schein. Denn der französische Schriftsteller und Philosophiedozent Pierre Péju hat seinem neuen Roman „Schlaf nun selig und süß“ ein Märchen von einem kinderfressenden Riesen vorangestellt und so eine zwar metaphorische, aber sehr deutliche Fährte gelegt.

Hinter der Fassade der Dorfgemeinschaft ist der Krieg erwartungsgemäß doch präsent, präsenter vielleicht als an zerstörten Orten, an denen eine Verdrängung schon durch die alltägliche Begegnung mit den Kriegsfolgen schwerer möglich scheint. Paul erfährt durch die mysteriöse Einzelgängerin Clara, die schablonenhafte Femme fatale des Romans, von einem schrecklichen Geheimnis: Ein Vater hat seine beiden Kinder eigenhändig erwürgt. Was Paul gegenüber sorgsam verschwiegen werden sollte, steht im direkten Zusammenhang zu den Verbrechen der Nazis.

Die Anekdote soll die unzureichende Vergangenheitsbewältigung innerhalb der deutschen Gesellschaft vor 1968 symbolisieren. Kein Zufall, dass die Studentenunruhen des Jahres 1968, allerdings diejenigen in Paris, einen thematischen Schwerpunkt im Roman bilden, der mit dem französischen Buchhändlerpreis Le Prix du Roman Fnac ausgezeichnet wurde. Pierre Péju, Jahrgang 1946, hat keinen Deutschlandroman geschrieben. Aber sein Buch kreist um den Zweiten Weltkrieg und die Verbrechen der Nazis. Die Geschichte vom kindermordenden Vater beschreibt der Autor als eine psychopathologische Konsequenz der Nazi-Gräuel, die dem Leser in parallelen Handlungssträngen schonungslos vor Augen geführt wird. Der Täter war Wehrmachtsoffizier und musste zusehen, wie nicht nur die SS, sondern auch Wehrmachtssoldaten Frauen und Kinder misshandelten und töteten. Dieses Trauma hat er nicht verwunden. Wie schon der Titel verrät, ist das Hauptthema des Buches der Tod, genauer: unterschiedlichste Todesarten. Vor diesem Hintergrund streift der Autor die ewige Frage nach Gut und Böse; die Grenze zwischen beidem erweist sich als fließend.

Péjus Roman leidet trotz interessanter Ansätze an allzu bemüht wirkender Konstruiertheit. Außerdem ergeht sich der Autor in Klischees von mordenden und gleichzeitig „Lili Marleen“ singenden Nazis oder kapriziösen, bindungsunfähigen Französinnen. Sein Stil ist mitunter arg schwülstig: „Die Luft ist lau. Der Käse schwitzt leise vor sich hin. So tiefer Schlaf!“ Bekanntlich ist Schlafes Bruder der Tod. Tot sind am Ende, im Jahre 2037, alle. Und Paul stirbt jeden Tod mit: den seines Philosophielehrers, der sich eine Kugel in den Kopf jagt, den seiner Frau Jeanne, die von der „scheußlichsten aller Krankheiten“ zerfressen“ wird, und den seiner Jugendliebe, der Kriegsfotografin Clara, die mit grausamen Bildern für Furore sorgt. „Clara ist so dumm ums Leben gekommen wie nur möglich. … Kugeln aus Maschinengewehren zerfetzen die Mauern. … Eine Kugel prallt von einer Eisenmauer ab und trifft Clara mitten in die Lunge.“

TOBIAS SCHWARTZ

Pierre Péju: „Schlaf nun selig und süß“. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Piper, München 2007, 336 Seiten, 18 Euro