Durchs Eismeer nach innen

PREMIERE In seinem meditativen Film „Basislager“ dokumentiert Hans Peter Böffgen eine Reise von Christoph Marthaler mit Ensemble nach Grönland

Theater reisen. Nicht nur mit fertigen Produktionen. Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler fuhr mit seinem Ensemble nach Grönland, um dort die Performance „+/- 0. Ein subpolares Basislager“ zu erarbeiten. Ein Bühnenbild von Anna Viebrock reiste mit. Es war in den Werkstätten der Volksbühne Berlin gefertigt, an der die Inszenierung heute Abend wieder gezeigt wird (Besprechung in der taz vom 16. Mai 2011).

Zwei Stunden später hat im Babylon Mitte ein Film von Hans Peter Böffgen Premiere, in dem man dem Einpacken des Bühnenbildes in einen Container in Berlin und dem Aufbau in der leeren Halle eines Kulturzentrums im grönländischen Nuuk zuschauen kann. Das Ensemble aus Künstlern aus Grönland und bekannten Marthaler-Spielern wie Ueli Jäggi und Bettina Stucki hört man derweil Tonleitern üben.

Der Film „Basislager“ hat ein ungeheuer gelassenes Tempo, er schlurft dem Theaterregisseur und seinem Team so unaufgeregt wie möglich hinterher. Man fährt mit ihnen auf kleinen Kuttern durchs Eismeer und freut sich an den leuchtenden, frisch gewaschenen Farben von Schnee und Wasser. Man ist dabei, wenn ein riesiges Rudel Schlittenhunde das Team durch den Schnee fährt, man sieht beim Zerlegen eines Wals zu und ist bei wenigen, kurzen Interviews dabei: ein alter Grönländer erzählt von der Jagd auf Eisbären und ein Fischer davon, dass er und viele andere vom Fischfang nicht mehr leben können. Der Abschied aus einer alten Lebensform fällt schwer. Das Marthaler-Ensemble probt derweil den biblischen Vers „Wir haben hier keine bleibende Statt.“

Milde Absurdität

Warum reist das ganze Team nach Grönland, was sucht es dort, was findet es? Wer sich aufklärende Worte des Regisseurs erwartet, wird enttäuscht. Marthaler redet zwar, stellt sein Projekt den grönländischen Partnern vor, aber stets ist das Geräusch einer Säge oder der Motor eines Hubschraubers näher am Mikrofon als seine Stimme. Eine milde Absurdität unterzieht das ganze Unternehmen, den großen Aufwand – diese Vermutung bleibt. Marthalers einzig verstehbares Statement bezieht sich auf ein Rezept für Schweizer Wurstsalat, von dem er eine große Schüssel zubereitet.

Sieht man ihn oder seine Schauspieler mal mit Grönländern außerhalb des Theaters reden? Nein, bis auf die Ausflüge spielt sich fast alles in der Probenhalle ab, da werden ethnologische und historische Bücher gewälzt, Kostüme in Seehundfelloptik genäht, Schneemasken studiert. Die polyphonen Gesänge, die immer wieder geprobt werden, nach Schubert, nach Mahler, nach Purcell, verstärken die meditative Anmutung: Schaut man nicht eigentlich einer Reise nach innen zu, ist diese Intimität der Proben nicht eine hermetische Welt an sich?

Es dauert lange, bis sich die Bilder von außen, von einer Stadt aus Sozialbauriegeln und Lagerhallen, die zwischen Fels und Schnee wie abgestellt und vergessen wirken, mit den Bildern von innen zusammenfügen. Aber es geschieht, wenn auch sparsam. Analogien werden sichtbar, tapfer trotzt man dem Unbehaustsein draußen wie drinnen. Unmerklich verändern sich die Probenbilder, aus dem diffusen Umeinanderschlurfen werden signifikante Situationen. Was eben noch bloße Form war, beginnt zu sprechen.

Da hat man als Zuschauer fast zwei Stunden mit dem Gefühl der Langeweile gekämpft und merkt dann, wie man doch der Genese einer zarten Verflechtung von Kunst und Wirklichkeit beigewohnt hat.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ „Basislager“. Regie/Kamera/Ton: Hans Peter Böffgen. Deutschland 2011, 115 Min. Premiere heute im Babylon Mitte, 22.15 Uhr