hamburger szene
: Wahlkampf mit Fahne

Es ist nie langweilig in Hamburgs S- und U-Bahnhöfen. Egal zu welcher Uhrzeit, egal ob sich die Bahnsteige uns überfüllt oder leergeputzt präsentieren. Gefährlich kam es mir hier nie vor – eher amüsant und meistens kurios.

Neulich sitze ich nach Mitternacht an den Landungsbrücken und warte auf die Bahn. Vielleicht ist es schon etwas später, denn die Wartezeit zwischen den einfahrenden Zügen erscheint sehr lang. Es ist nass draußen, und so flüchte ich mit meiner Zigarette ins Trockene und setze mich neben einen älteren Herrn – seine Haare sind grau und fettig, sein Mantel an einigen Stellen zerrissen und dreckig. Er riecht nach Alkohol. Er will eine Zigarette, die er bekommt. Kaum den ersten Hauch einer Freundlichkeit gespürt, legt er auch schon los. Er schimpft auf die Politik, die hohen Tiere in Berlin mit ihren überzogenen Gehältern. Er wolle alles besser machen, sagt er. Mit seiner Partei. Die werde er mit seinen Kumpel bald gründen. Es gäbe in der Parteienlandschaft ja auch keine Alternativen mehr.

Ich steige nicht in meine Bahn und bleibe. Konservativ schien seine Partei nicht zu sein. Soziale Reformen hielt er ganz hoch, vor allem für die Ärmsten. „Das Geld nehmen wir von den Reichen!“ Robin Hood bekommt die zweite Zigarette. Das alles soll in sein Wahlprogramm. Und zufällig hat er es auch dabei. Etwas verschrumpelt zieht er einen handbeschriebenen Zettel aus der Tasche. Sorgfältig hat er all seine Thesen in Unterpunkten notiert. Es scheint ihm ernst zu sein.

Ich studiere das DIN A 4-Blatt. Er will, dass zukünftig jeder Dienst beim Bund leistet, egal ob Frau oder Mann. Zivildienst sei Quatsch. Klar, Gleichberechtigung und so, sage ich zu ihm. Aber der Rest?

Wir fangen an, uns zu streiten. Die nächste Bahn biegt in den Bahnhof ein. Die nehme ich dann auch. MAIKE WÜLLNER