: Am anderen Ende der Flüsterkette
„Stille Post“: Christina von Brauns Familienerforschung ist als Hörbuch erschienen
Wie umgehen mit den unvollständigen Informationen, die man über die eigene Familiengeschichte hat? „Stille Post“ nennt Christina von Braun dieses Halbwissen, wie die Botschaften in dem Kinderspiel, die beim Weitergeben verändert werden. Etwas anderes als solche Halbwahrheiten haben Nachkommen nicht in der Hand. Deshalb lässt die Autorin die Verstorbenen auftreten wie in einem Theater, lässt sie die stille Post so sprechen, wie sie bei ihr angekommen ist. Sie setzt sich aus Tagebüchern und Memoiren zusammen, aus Erzähltem; vor allem aber aus dem Unterschlagenen, das untergründig weiterwirkt.
Es ist eine radikal subjektive Form der Geschichtserzählung, zu der sich die Autorin, die in diesem Feature selbst mitspricht, mit dieser Metapher bekennt. Die Filmemacherin und Professorin für Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität erhebt keinen Wahrheitsanspruch, und gerade deshalb fasziniert ihre sehr persönliche Chronik. Denn so ist es ja immer mit Familiengeschichten: Sie entgleiten und verselbstständigen sich. Die Toten fallen sich auf der inneren Bühne ins Wort, streiten darüber, wer warum geheiratet, von wem die Syphilis bekommen, sich weshalb das Leben genommen hat.
In der Familie von Braun kommen alle erdenklichen Extreme zusammen. Väterlicherseits gibt es deutschnational gesinnte Junker aus Ostpreußen, und natürlich Wernher von Braun, der in Peenemünde Raketen für Hitler baute. Mütterlicherseits spielt eine engagierte Frauenrechtlerin die Hauptrolle: Hildegard von Margis, die Großmutter der Autorin. Nachdem sie im Ersten Weltkrieg ihren Mann verloren hat, gründet sie 1923 eine Zeitschrift für Hausfrauen mit dem Ziel, den Haushalt zu rationalisieren. Damit entdeckt sie eine Marktlücke und wird zu einer der prominentesten Frauen der Weimarer Republik.
Mit der Inflation fällt das kleine Imperium in sich zusammen, und nach der Machtergreifung schickt Hildegard von Margis ihre Kinder ins Ausland. Die Tochter Hilde, die Mutter der Autorin, heiratet einen Diplomaten, der zunächst nach Afrika, dann nach Rom versetzt wird. Die letzten Kriegsjahre verbringt die Diplomatenfamilie in einer Wohnung des Vatikans, die Kinder spielen in den päpstlichen Gärten, während die Großmutter in Berlin den kommunistischen Widerstand unterstützt. Im Sommer 1944 wird Hildegard von Margis verhaftet und stirbt wenig später in einem Frauengefängnis in Berlin.
Von ihrer jüdischen Abstammung erfährt die Enkelin erst viel später, und diese Botschaft ist ein Teil der stillen Post, die ihre Mutter unterschlagen hat. Das Titelthema behandelt dieses Feature, produziert für den Deutschlandfunk, ganz konventionell; meist sprechen die Stimmen brav nacheinander; das allerdings pausenlos. Da gibt es keinen Punkt und kein Komma, keine Klangräume zwischen den Sprechblasen. Nur ab und zu raunt, fast versehentlich, ein Windspiel im Hintergrund. Das Konzept der Buchvorlage, in die Leerstellen zwischen den Fragmenten hineinzuhorchen, setzt das Feature formal nicht um.
Hingegen rückt es eine These der Autorin in den Vordergrund: In den Vierzigerjahren wandelt sich der Begriff von Heimat, die nicht mehr einen realen, sondern einen inneren Ort bezeichnet. Dass er deshalb nicht weniger wirkungsmächtig ist, zeigt sie an den Lebensweisen der in alle Welt verstreuten Familienmitglieder. Einige davon wären mit dieser These vermutlich nicht einverstanden gewesen, doch hier senkt die Autorin den Vorhang ihres inneren Theaters und lässt die Geschichte so unklar wie die Botschaft am anderen Ende der Flüsterkette. IRENE GRÜTER
Christina von Braun: „Stille Post“. Hörbuch Hamburg, 12,95 Euro