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Archiv-Artikel

Auf Leben und Tod

THEATER Zwei sehr verschiedene Inszenierungen des Bremerhavener Stadttheaters stellen große Fragen. Eine Antwort könnte lauten: Das Leben ist bisweilen härter als der Tod

Das Leben ist Sibel nicht groß genug. Sie will feiern, tanzen, vögeln, nicht nur mit einem Mann

VON ANDREAS SCHNELL

Es ist vielleicht eine der stärksten Liebesgeschichten, die das deutsche Kino der letzten Jahre erzählt hat: Die Geschichte von Sibel und Cahit, beide Migrantenkinder, in Deutschland aufgewachsen, der eine an einer tragisch geendeten Liebesgeschichte zerbrochen, die andere lebenshungrig und mit einem Elternhaus geschlagen, dass ihrem suizidalen Hilferuf nicht mehr entgegenzusetzen hat, als dass Gott dem Menschen nichts Größeres geschenkt hat als das Leben. Das Sibel aber nicht groß genug ist. Sie will feiern, tanzen, vögeln, nicht nur mit einem Mann.

Aus der strategischen Ehe der beiden, die Sibel die Freiheit geben soll, wird eine Liebe, die scheitert, bevor sie begonnen hat. Fatih Akin hat ihre Geschichte vor gut zehn Jahren in dem Film „Gegen die Wand“ ausgebreitet, Ludger Vollmer machte eine Oper daraus, die 2008 in Bremen uraufgeführt wurde, schon ein Jahr vorher schrieb Armin Petras eine Bühnenfassung. Weitere folgten.

Die neueste hatte am Mittwoch in Bremerhaven Premiere. Regisseur Paul-Gerhard Dittrich und Dramaturg Lennart Naujoks haben Akins Drehbuch für die Bühne neu eingerichtet, in einer interessanten Mixtur aus narrativen Elementen, abstrahiertem Spiel (V-Effekt im Sinn) und multimedialen Einfällen (Bühne und Kostüme: Stefanie Stuhldreier). Die Versuche, sich in einer nicht immer gastlichen Welt einzuhausen, finden in einem simultan abgefilmten Karree statt, das die Schauspieler in lächerliche Haltungen zwingt, auf dem Rücken liegend, den Hintern zum Publikum, alles, damit es auf der Leinwand gut aussieht.

Dass Ensemble tut sein Teil zum Gelingen dieses emotional packenden Abends: Jennifer Sabel verkörpert die zwischen Tradition und Ausbruch sich zerreißende Sibel mit enormer Intensität. In Andreas Möckel als Cahit steht ihr ein allzeit höchst präsenter Partner zur Seite, der die vernarbte Seele seiner Figur mit Vehemenz herausarbeitet. Franziska Schlaghecke und Sebastian Zumpe teilen sich die weiteren Rollen: Sibels One-Night-Stand Nico, den Cahit im Affekt tötet, und Cahits Freund Seref, den er bei Sibels Eltern als seinen Cousin vorstellt, als er um ihre Hand bittet, gibt Zumpe, Schlaghecke spielt Cahits Geliebte Maren und Sibels Cousine Selma, wobei beide mühelos mit dem Tempo des Abends mithalten können.

Und dann muss natürlich der Musiker Gökdan Yüksek alias „Crak“ erwähnt werden, der nicht nur begleitende Musik komponiert hat, sondern dann auch auf der Bühne zu sehen und zu hören ist, mit einem deutsch-türkischen Rap und wehmütiger traditioneller türkischer Musik auf der Saz. In seiner Musik kann er die Widersprüche, wenn schon nicht auflösen, dann doch produktiv verarbeiten. Allerdings löst sich die Geschichte nicht pur in einem kulturellen Konflikt auf. Was Sibel und Cahit aneinander scheitern lässt, auch das zeigt Dittrich in Bremerhaven, ist nicht zuletzt einer Gesellschaft immanent, die die Freiheit der Lebensentwürfe behauptet und zugleich zuverlässig die Kernfamilie (und wenn’s in Homoehe ist) als Ideal preist.

Endgültiger ist da nur der Tod, dem wir uns in Bremerhaven auf dem Seeweg nähern können: Stefan Nolte und Oliver Gather haben für das Stadttheater die „Hadestour“ konzipiert, eine „Schiffsfahrt zu den letzten Dingen“. Mit ein wenig Pech – oder, je nach Geschmack, Glück – kann die durchaus beklemmende Züge gewinnen. Wenn das Wetter statt Sonnenschein eher stürmisch ist und die „MS Geestemünde“, auf der die Reise stattfindet, deutlich mitnimmt. So einer Reise über den Styx in die Unterwelt steht ein bisschen Grusel gut an. Dabei dient das Setting weniger der vollmundigen Heraufbeschwörung eines Mysteriosums. Das unwirtliche Wetter draußen verstärkt vielmehr die Intimität im Innern des Schiffs, in das Isabel Zeumer, Kay Krause und Harald Horváth das Publikum einladen, nachdem es zu dräuenden Klängen von Diamanda Galas durch die Schleuse Richtung Nordenham ging. Drinnen ist es warm, die Sitzordnung informell. Eine Collage aus Wolfgang Herrndorfs Sterbetagebuch „Arbeit und Struktur“ und dem Orpheus-Mythos, verschnitten mit Bremerhavener O-Tönen (eine Pastorin, eine Hospiz-Schwester, ein Bestatter), einem Bericht über die Trauerfeier für den Torhüter Robert Enke, ein wenig Beckett und einer Prise Galgenhumor bilden die dramaturgische Route.

Nolte und Gather verzichten auf große Gesten und großes Pathos zugunsten eines intimen Tons, der bei der Rückkehr mit einer warmen Geste der Solidarität ausklingt, genauer: einem Glas Tee. So verbindet sich Unausweichlichkeit, Ausgesetztsein mit der Notwendigkeit, den letzten Dingen ins Auge zu schauen, spielerisch, aber ernst, unaufgeregt, aber anregend.

■ „Gegen die Wand“: Donnerstag, 9. April, Freitag, 24. April, 19.30 Uhr, Kleines Haus, Stadttheater Bremerhaven

■ „Hadestour“: Dienstag, 14., Dienstag, 21. April, jeweils 19.30 Uhr, „MS Geestemünde“