Unter den Tasten, da liegt der Strand

CYBERSPACE Seit zwei Jahren besteht der Blog „viertel-bremen.de“. Dort beichten Ex-Punker ihre Sünden, kämpfen Anwohner gegen Vermieter und schimpfen Alt-68er, wie Sven Regener das Sielwall-Eck darstellt

„Wisst ihr eigentlich, dass wir als Band Ende November 1979 die Tür zum Lagerhausgebäude geknackt haben?“

Früher, in den 80ern, hätten die AnwohnerInnen aus dem Ostertor und Steintor Flugblätter gedruckt oder einen Punk-Song geschrieben: Wenn sie heute etwas aufregt, schreiben sie einen Blog-Eintrag auf viertel-bremen.de. Nun ist das Sielwall-Eck nicht der Tahrirplatz, doch scheint auch das Bremer Establishment die Blogger zu fürchten.

Zumindest manchmal: Auch der Chef einer Schwachhauser Immobilienfirma hat die wenig schmeichelhaften Einträge gelesen, die seine Geschäfte mit Häusern in der Schild- und Luisenstraße anprangern. Ende Oktober greift er in die Tasten und schlägt in einem Blog-Kommentar Termine für ein Treffen vor. Dass er sich online auf dem Viertel-Blog zum ersten Mal gegenüber seinen MieterInnen äußert, ist im Sinne des Blogbetreibers Galeff Schmees.

Vor zwei Jahren, am 27. Dezember 2009, startete Schmees die Website: „Die Leute im Viertel sollten eine Möglichkeit haben, etwas zu verändern.“ Mittlerweile erreichten einzelne Beiträge bis zu 1.000 LeserInnen, sagt er.

Auf Fotos festgehalten etwa wird die nächtliche Pinkel-Attacke eines Kneipenbesuchers: In der Nacht des 5. Oktober 2011 hat er sich mit seinem Urin an der Hauswand von Blog-Autorin „Suzie Q.“ verewigt – sie rächt sich einen Tag später mit einem Foto auf dem Viertel-Blog. Dabei könnte der Pinkler ihr Mitstreiter sein. Denn wo es dreckig ist und stinkt, da möchte niemand hinziehen. Das Gegenteil aber ist Suzie Q.s Problem: Die Bloggerin ist eine der MieterInnen der Schildstraße und kämpft gegen die Spekulation mit der Wertsteigerung von Häusern im Viertel, gegen die „Gentrifizierung“.

Dass es auf seinem Blog auch um politische Themen geht, ist für Galeff Schmees in Ordnung, solange es nicht zu radikal wird. Schmees ist Geoinformatiker. Daten und Räume in Bezug zu setzen, das ist sein Beruf. Bei der heutigen weltweiten Informationsflut setzt er aufs Lokale – und auf dessen Vermarktung. Über den Blog verkauft er Viertel-T-Shirts, Werbeflächen und bietet Internetadressen an. Schmees ist 34, die meisten AutorInnen, die auf seinem Blog schreiben, gehören zur Generation seiner Eltern.

Etwa „Knoxx“, Betreiber des „Bistro Brazil“, der im Viertel als Punker-Urgestein bekannt ist. Anfang der 80er war er Schlagzeuger bei der Punkband „A5“ und wäre beinahe richtig berühmt geworden. Zum 30. Geburtstag des Kulturzentrums Lagerhaus gestand Knoxx seinen BlogleserInnen: „Wisst ihr eigentlich, dass wir als Band damals Ende November 1979 die Tür zum da noch leerstehenden Lagerhausgebäude geknackt haben? Dort hatte bis ’74 die BREMA ihr Hauptquartier und nebenan war ein Kontorhaus. Dort befand sich unser Übungskeller.“

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Gemeinsam mit Blogbetreiber Schmees findet der Ex-Punker Knoxx es nicht mehr schlimm, wenn Deutschland bei der WM gefeiert wird, ärgert sich über die Dönerbuden-Konkurrenten am Sielwall und über zerbrochene Flaschen bei der Breminale.

„Punk“ war gestern, auch im Viertel. Daran aber erinnern sich Knoxx und die anderen Viertel-Blogger und legen Wert auf Authentizität. Als im Mai 2010 das Sielwall-Eck für die Verfilmung von Sven Regeners „Neue Vahr Süd“ gesperrt wurde, fehlen für Zeitzeugin „Hella“ die Hansa-Bier trinkenden Punks, die damals am Eck rumhingen. Sie versteht nicht, wieso das Viertel für Regener so öde war. Knoxx führt aus: „Mann, 79/80 das war doch so geil. Wir waren Spontis, Hausbesetzer, Punks und Drogenforscher.“

Genau deshalb, sagt Schmees, hat er den Blog vor zwei Jahren gegründet: „Weil das Viertel ein besonderer Ort ist.“ Er selbst übrigens wohnt in Horn-Lehe.  JPB

www.viertel-bremen.de