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Archiv-Artikel

Wenn Tiere zusammenrücken

Kältelehren (1): Am Baikalsee lässt sich studieren, wie die Kälte unter gesellig lebenden Tieren egalitäre Sozialsysteme fördert. Dafür braucht man aber eine warme Fellmütze

„Jetzt musst du stark sein, deinen Tierschutzfimmel vergessen und diese Mütze hier aufsetzen!“ Frank, ein Freund aus gemeinsamen Schultagen, der sich als Wirtschaftsprüfer auf NGOs im ehemaligen Ostblock spezialisiert hat, übergab mir noch am Moskauer Flughafen eine russische Fellmütze aus echtem Fell. Und wirklich gut – das versicherte mir jeder, den wir später in Sibirien trafen – sind diese Mützen nur, wenn das Fell von einem auch unter sibirischen Bedingungen lebenden Tier stammt. Wir waren auf dem Weg nach Irkutsk und es war tiefster russischer Winter. Frank, um die Bilanzen der Umweltschutzorganisation „Baikal-Welle“ zu prüfen und ich um das Wissen der Frauen – die Baikal-Welle wird fast ausschließlich von Frauen betrieben – von der Natur zu nutzen. Auf den Spuren Alexander von Humboldts und Peter Kropotkins wollte ich mir einen Eindruck der kalten Weiten Sibiriens verschaffen, die Kropotkin in seinem Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ so eindringlich gegen die Konkurrenzenge der Darwin’schen Inselwelten gestellt hatte.

Kälte, so lautet ein Diktum auch der neueren Verhaltensforschung, fördert unter gesellig lebenden Tieren egalitäre Sozialsysteme, lässt sie buchstäblich zusammenrücken. Als Mensch braucht man aber zuerst eine Mütze aus einem Fell, das einem Tier über die Ohren gezogen worden ist, um die Menschenohren und die Orientierung in Sibirien nicht zu verlieren.

Aber auch unter den Tieren suchen nicht alle die Nähe der Nächsten. Vor dem Verwaltungsgebäude des Baikalsky-Naturschutzgebietes spielen zwar die Mehrzahl der Schlittenhunde in der Morgensonne, einer liegt aber abseits, allein zusammengekauert im Schnee. „Das ist die Chefin“, meint Wassili Iwanowitsch, „eigentlich kann sie jeden zwingen, mit ihr zu spielen, aber oft scheint ihr das zu anstrengend.“ Wassili Iwanowitsch, ein Angestellter der Naturschutzbehörde, ist ein Spezialist für Säugetiere. Von denen wir dann auf einer Skitour durch die Fichtenwälder des Parks nur die Spuren im Schnee sehen, die einem Kenner aber genauso viel erzählen wie das Tier selbst.

Eine Zobelspur zum Beispiel hat zwischen den Fußabdrücken immer einen ganz leichten Strich in der Mitte gezeichnet. Der Zobel hatte eine Maus gefangen, und nach jedem Sprung des Zobels schlug der Schwanz der Maus, die der Zobel in der Schnauze hielt, einen leichten Strich in den Schnee. Die Spurenstudien waren lehrreich, aber anstrengend. Mit jedem Halt vor einer Spur schoss einem die sibirische Kälte in den von Bewegung erhitzten Körper, und zwar so tief, dass die Kälte die Knochen von innen auszukühlen schien. Wogegen Wassili Iwanowitsch ein Mittel dabei hatte: Speck und Wodka. Und auch wenn man wie ich keinen Schnaps mag, muss man zugeben, dass der Wodka innen sofort die Knochen angenehm wärmt. Was kurzfristig wärmt, ist auf lange Sicht in Sibirien allerdings fatal. Der Wodka ist der Grund, warum die meisten Frauen, die wir trafen, allein erziehende Mütter waren.

CORD RIECHELMANN