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Archiv-Artikel

Als Wien der Nabel der Welt war

ZEITGESCHICHTE Politische Neuordnung und erotische Unordnung prägen die Erzählungen über den Wiener Kongress. Das beleuchten jetzt eine Ausstellung im Belvedere in Wien und ein Buch des Historikers Adam Zamoyski über die ideologischen Folgen der Beschlüsse

Die Preise explodierten. Für ein Kilo Rindfleisch musste man 1815 doppelt so viel hinlegen wie zuvor

VON RALF LEONHARD

Unschuldig und von engelsgleicher Schönheit ist die Marmorbüste, die Bertel Thorvaldsen nach Wilhelmine von Sagan gemeißelt hat. Die Prinzessin von Kurland war Lebensabschnittsgeliebte des österreichischen Außenministers Clemens Wenzel Fürst Metternich und unterhielt während des Wiener Kongresses (1814/15) einen einflussreichen Salon. Eine ehemalige Geliebte, die russische Fürstin Katharina Bagration, mit der er auch eine Tochter hatte, trat der Meisterintrigant am Wiener Hof dem russischen Zaren Alexander I. ab, der mit seiner Frau und seiner Mätresse Fürstin Marija Antonowna Naryschkina angereist war, und jede Frau, die ihm vorgestellt wurde, ins Bett zu bekommen versuchte.

Porträts dieser Frauen, die über die Schlafzimmer der Mächtigen selbst zu Einfluss und Ruhm gelangten, dienen als Blickfang einer Ausstellung, die im Unteren Belvedere in Wien die Geschichte des Wiener Kongresses beleuchtet. Wenn in der Hofburg oder den Salons keine Lustbarkeiten geboten wurden, vergnügten sich die hohen Herren auch gerne in den Freudenhäusern der Vorstadt. Akribisch dokumentiert von Metternichs Stasi.

„Der Kongress tanzt und kommt nicht weiter“. Das Bonmot des belgischen Feldmarschalls in österreichischen Diensten, Charles Joseph de Ligne, hat das Bild dieses diplomatischen Großereignisses geprägt. Tatsächlich verstand es der Habsburger Kaiser Franz I. trotz leerer Staatskassen, die angereisten Fürsten und Spitzenpolitiker Europas nebst ihren Frauen und Mätressen neun Monate lang zu unterhalten. Konzerte, Bälle, Redouten, große Volksfeste, Feuerwerke, Turniere, Jagden, Schlittenfahrten und andere Amüsements sollten eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Staatslenker wohlfühlen sollten, galt es doch, dem von Napoleon aufgewühlten und politisch umgepflügten Europa wieder die alten Grenzen zurückzugeben und die Herrschaft der konservativen Monarchen zu konsolidieren. Metternich wusste wohl, dass die entscheidenden Durchbrüche nicht am Verhandlungstisch, sondern bei den informellen Treffen zustande kommen.

Kette sozialer Ereignisse

„Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815“ heißt die große Ausstellung. Die Schlussakte aus dem Österreichischen Staatsarchiv, von der sich dem Betrachter die Seite mit den 17 Siegeln der Unterzeichner darbietet, ist das prunkvolle Original, von dem jeder Signatar eine Abschrift bekam. „Die besondere Herausforderung beim Wiener Kongress liegt im Ineinandergreifen von Historie und Ereigniskultur“, so Kokuratorin Sabine Grabner: „Erschwerend ist dabei, dass man damals keinen mit heute vergleichbaren Sinn für die Dokumentation hatte.“ Viele Begebenheiten seien zwar als Erzählung überliefert, können aber nicht durch Ansichten visualisiert werden.

So gibt es nicht einmal eine authentische Darstellung der Konferenz selbst. Die darf man sich auch gar nicht als Abfolge von Debatten am Verhandlungstisch vorstellen, sondern als Vielzahl von kleinen Treffen und ständigen sozialen Ereignissen. Der Kupferstich von Jean-Baptiste Isabey, der heute noch in den Schulbüchern den Wiener Kongress illustriert, zeigt eine fiktive Versammlung. Der Künstler musste monatelang den einzelnen Protagonisten nachlaufen, um sie auf Miniaturen zu porträtieren, die er dann für seinen Stich arrangierte. Der Wissenschaftler Wilhelm von Humboldt ließ sich erst auf eine Porträtsitzung ein, als der Maler ihm versicherte, dass er dafür nicht bezahlen müsse.

Die Rechnung für all die Lustbarkeiten wurde aus der Hofschatulle des Kaisers beglichen. Der Gastgeber hatte nicht nur die europäischen Fürsten samt ihrer Entourage in standesgemäßen Palais unterzubringen und zu verköstigen. Er stellte auch die Kutschen für deren Beförderung zur Verfügung. Hatte Obersthofmeister Ferdinand Fürst Trauttmansdorff anfangs noch 400.000 Gulden für die Festivitäten und die Unterbringung der Gäste veranschlagt, musste er ständig neue Mittel beantragen. Denn der Kongress dauerte nicht, wie ursprünglich erwartet, zwei, sondern neun Monate. Die Preise explodierten. Für ein Kilo Rindfleisch musste man Anfang 1815 mit 15 Kreuzern doppelt so viel hinlegen wie ein Jahr zuvor. Schätzungen gehen also von Gesamtkosten in der Höhe von 30 bis 40 Millionen Gulden aus.

Wien war einige Monate lang buchstäblich der Nabel der Welt, der Menschen aller sozialen Schichten anzog. So kamen auch „Musikanten, Friseure oder Falschspieler“, wie Adam Zamoyski in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Werk „1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress“ schreibt: „Es kam, wer ein Liebesverhältnis oder eine Arbeit suchte, wer den großen Gewinn an den Spieltischen machen, eine Tochter verheiraten oder eine Ehefrau finden wollte. Und es gab solche, die einfach die Neugier herbeitrieb.“

Investition in Diplomatie

Als besondere Rarität gilt ein aufwendig restauriertes Ballkleid, das der Ausstattung einer Jane-Austen-Verfilmung entnommen sein könnte. Originale sind so selten, weil sie damals oft getragen wurden und mit der Zeit wegen starker Abnutzung entsorgt zu werden pflegten. Silberne Kandelaber, Terrinen, Senfbüchsen, Glasbecher, ein gläsernes Essig- und Öl-Set im vergoldeten Ständer, Stücke aus einem Goldservice aus der kaiserlichen Porzellanmanufaktur und andere wertvolle Exponate aus den Silberkammern, Mobiliendepots und Privatsammlungen lassen ahnen, mit welchem Luxus da täglich getafelt wurde.

Rückblickend gewiss eine lohnende Investition, denn das aus dem Kongress hervorgehende Gleichgewicht der Mächte sollte für 40 Jahre größere Kriege in Europa verhindern. Es setzte ein Kulturwandel ein, der Krieg nicht mehr als natürlichste Form der Lösung von Disputen betrachtete. Die auftauchenden Interessenkonflikte konnten durch Diplomatie und Verhandlungen entschärft werden. So trafen sich Kaiser Franz und Zar Alexander schon 1818 in Aachen wieder, wo sie mit dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. und Wellington den Abzug der alliierten Besatzungstruppen aus Frankreich beschlossen.

Die Viererallianz sollte bald um Frankreich als gleichberechtigten Partner erweitert werden. Zwei Jahre später waren sich anlässlich mehrerer Rebellionen im Mittelmeerraum die Mächte in Troppau einig, dass revolutionäre Änderungen am Regierungssystem einzelner Staaten als illegal bekämpft werden müssten. Die Anwendung von „Zwangsmaßnahmen“ sei angezeigt.

Der Wiener Kongress „verordnete dem ganzen Kontinent eine Ideologie“, schreibt Adam Zamoyski, „die sich aus den Interessen der vier Großmächte ableitete. Sein Versuch, die Vereinbarung dieser Mächte in Stein zu meißeln, führte dazu, dass sich ihre expansionistischen Bemühungen auf Afrika und Südasien richteten.“ Der aggressive Nationalismus, der Bolschewismus, der Faschismus und die beiden Weltkriege seien direkte oder indirekte Folgen, meint der Historiker in seinem sorgfältig recherchierten Werk. Letztlich sogar die Europäische Union. Das frivole Treiben der hohen Herren untergrub aber auch den Respekt der Bevölkerung vor den Herrschenden, womit auch die Saat für die Märzaufstände von 1848 gelegt war.

Die nach dem Wiener Kongress gegründete Heilige Allianz (Österreich, Preußen, Russland und England) wurde zum beliebten Sujet: Die Monarchen selbstredend in staatstragender Pose. An Karikaturen und satirische Darstellungen der Protagonisten des Wiener Kongresses wagten sich vor allem englische und französische Zeitungen. Ein dankbares Objekt für Spott und Hohn auch in deutschen und österreichischen Blättern war hingegen der kleine Korse, der nach der Völkerschlacht von Leipzig 1813 vom Eroberer zum Gejagten wurde und durch seine Rückkehr aus dem Exil auf Elba im Juni 1815 die Schlussphase des Kongresses in Wien beschleunigte. Nur zehn Tage nach der Unterzeichnung der Schlussakte am 8. Juni traf man sich auf dem Schlachtfeld von Waterloo.

■  „Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/15“, Belvedere, Wien, bis 21. Juni 2015

■  Adam Zamoyski: „1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress“. Verlag C. H. Beck, München 2014, 704 Seiten mit 47 Abbildungen, 29,95 Euro