: Von der Funktion des Orgasmus
Kennen Sie die Fokustheorie? Vielleicht die Haschrebellen? Wissen Sie, was mit Bewusstseinserweiterung gemeint ist? Eine kurze Zusammenstellung von Begriffen, die ’68 eine mehr oder weniger große Rolle spielten
VON ANDREAS FANIZADEH, JAN FEDDERSEN & WOLFGANG GAST
Antiautoritär: Ein Wort, das im Zusammenhang mit Sozialismus theoretisch rasch zu den Akten gelegt wurde, im Hinblick auf erzieherische Vorstellungen und solchen zum gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt erlangte es Popularität, vor allem mit Beginn der Siebzigerjahre. Nichts schien dem deutschen Spießer unheimlicher und würdiger der Kritik, als a. für unmöglich zu halten. Schriften von Alexander S. Neill über das von ihm gegründete Internat im britischen Summerhill waren gerade unter Schülern vielgelesen. Bloß kein Kommisston mehr. A. war das Gegenteil vom Soldatischen, von bedingungslosem Befehl und Gehorsam.
APO: Die Außerparlamentarische Opposition, kurz: APO, entwickelte sich gegen die seit 1966 regierende –>große Koalition von CDU und SPD und die von der damaligen Regierung geplanten –>Notstandsgesetze. Begünstigt wurde sie durch das Frontdenken des Kalten Kriegs und eine als Kapitalismuskritik verstandene Ideologie, nach der der kapitalistische Staat und seine Institutionen fest in der Hand der Besitzenden seien. Im Parlament schien ob der relativ kleinen FDP tatsächlich eine nennenswerte parlamentarische Kontrolle der Regierung Kiesinger zu fehlen. Auch das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands 1956 hatte zu dem Eindruck beigetragen, in der Bundesrepublik sei die linke Kritik von der Demokratie weitgehend ausgeschlossen. 1963 bis 1966 öffneten die beiden Frankfurter Auschwitz-Prozesse zudem der heranwachsenden Jugend die Augen über die zumeist verschwiegenen NS-Verbrechen der älteren Generation. Die APO hatte ihre Hochburgen vor allen an den westdeutschen Universitäten. Dort rebellierten die im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zusammengefasste Ausbildungselite des Landes und gründete 1967/68 die Kritische Universität. Die APO stützte sich auf Denker des westlichen Marxismus, der –>Kritischen Theorie sowie des französischen –>Existenzialismus, aber auch auf Spiritualität, Pop und –>Hippietum.
Autoritärer Charakter: Das Konzept geht im Wesentlichen auf den Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm (1900–1980) zurück, wurde dann vom Mitbegründer der –>Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, fortentwickelt. Danach fügt sich der a. C. fraglos in gesellschaftliche Hirarchien ein, weil er sich nicht mit seiner Nichtigkeit und Ohnmacht konfrontiert sehen will. Literarisches Beispiel: „Der Untertan“ von Heinrich Mann.
Beatnik: Als Beatniks firmiert eine Strömung der US-Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Bekannte Vertreter waren Allen Ginsberg, William S.Burroughs oder Jack Kerouac. Die wichtigsten literarischen Werke waren Kerouacs „On the Road“, das Gedicht „Howl“, das Allen Ginsberg 1955 beim Six Gallery reading vorstellte und „Naked Lunch“ von William S. Burroughs. „Howl“ und „Naked Lunch“ standen wegen ihrer angeblichen Obszönität im Mittelpunkt der öffentlichen Empörung. Nach Freisprüchen vor Gericht setzte sich in den USA der späten 1950er allmählich eine freizügigere Publikationspraxis durch.
Bewusstseinserweiterung: Absicht und Ziel jener Bewegung, die unter der Chiffre ’68 verhandelt wird. Die einen, eher politisch orientiert, verstehen darunter ein Leben als stetige Schulung der politischen Ökonomie, also das immer klarere Wissen um die grundsätzliche Misere dessen, was Kapitalismus ist; die anderen begriffen B. als Credo, mit allerlei Trips und Tricks das, was sie im Körper für verborgen, ja gedeckelt halten, zu befreien. Alle modernen Körpertherapien (Gestalt, Reiki, Rolfing et al.) leben von diesem Unterfutter der Absicht, es zu einer B. kommen zu lassen; B. kann als Zaubervokabel nicht verstanden werden, sofern nicht Techniken der Beschwörung (Mantra) und des Drogenkonsums bedacht werden. Haschisch, Marihuana („Dope“) und etlich anderes haben gerade in hippiesken Zirkeln stark an Beliebtheit gewonnen.
Davis, Angela: Am 26. Januar 1944 geboren, kreierte unter anderem den „Afro-Look“. D. war und ist eine Repräsentantin des schwarzen Amerika. Ihr war 1970 die indirekte Beteiligung an einem tödlich endenden Befreiungsversuch von afroamerikanischen Gefangenen aus einem kalifornischen Gerichtssaal vorgeworfen worden. D., damals junge Hochschulprofessorin und Mitglied der Kommunistischen Partei der USA , wanderte auf die FBI-Liste der „Zehn Meistgesuchten“. Sie kam für 16 Monate in Untersuchungshaft, nach zwei Jahren wurde sie dann aber in allen Punkten freigesprochen.
Dialektik der Aufklärung: Das schmale Bändchen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers wurde 1944 unter dem Titel „Philosophische Fragmente“ in den USA erstveröffentlicht. Nach Ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil vermieden die beiden Köpfe der Frankfurter Schule eine Publikation in der Bundesrepublik. In den 1960er-Jahren kursierte die Schrift als Raubdruck unter politisierten Studentenzirkeln. 1969 folgte endlich die deutsche Neuausgabe. Adorno und Horkheimer hatten die „Dialektik der Aufklärung“ vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen verfasst. Sie betrachteten zu dieser Zeit das Projekt der Aufklärung für gescheitert und sahen in Kapitalismus, dem Zusammenspiel von Kulturindustrie und faschistischen Ideologien den Grund für den „Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation“ und der „neuen Art von Barbarei“.
Dutschke, Rudi: Geboren 1940 in Luckenwalde, war Dutschke der unumstrittene Anführer des Berliner SDS und die charismatischste Figur der bundesdeutschen –>APO. Im April 1968 schoss ihn der von der Lektüre der Bild-Zeitung aufgehetzte Josef Bachmann in den Kopf. An den Spätfolgen des Attentats starb Dutschke 1979. Dutschke vertrat das Ziel eines demokratischen Sozialismus, gehörte zur linken Opposition bereits in der DDR. 1961 siedelt er in den Westen über. 1962 war er in Westberlin an der Gründung der „Subversiven Aktion“ beteiligt, die sich als ein deutscher Flügel der –> Situationistischen Internationale verstand. Kurz vor seinem Tod nahm er 1979 am Gründungskongress der Grünen teil.
Entfremdung: War einer der Lieblingsbegriffe der 68er-Bewegung. Demnach sei der gemeine Mensch im Kapitalismus durch die Art seiner Arbeit und deren Organisation seinen tatsächlichen und höheren Bedürfnissen entfremdet. Viele Anhänger der 68er-Bewegungen verklärten zu diesen angeblich wichtigsten Bedürfnissen des Menschen intellektuelle und künstlerische Tätigkeiten, die größten Stummköpfe brächten dem hingegen seriell-industrielle Arbeiten hervor. Ein neuer Elitismus war geboren, der bis heute in jede Bildungsdebatte hineinspielt.
Establishment: Kampfbegriff der Studentenbewegung. Wurde als Sammelbegriff gegen die herrschenden Verhältnisse und die verfestigten Strukturen der Gesellschaft – vulgo: gegen das –>System in Stellung gebracht. Das bekannteste Beispiel, das aber auch die im Begriff enthaltene Anmaßung zeigt, ist die Parole: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“.
Existenzialismus: Die Strömung der Existenzphilosophie aus Frankreich beeinflusste neben der Frankfurter Schule die 68er-Bewegung nachhaltig. Der E. stand für eine allgemeine Geisteshaltung, die sich stilistisch im Tragen schwarzer Rollkragenpullover oder dem Hören von Jazz-Musik niederschlug, während man die Werke von Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Simone de Beauvoir las und den Film Noir im Kino bewunderte.
Familie: Unheilinstitution im Bewusstsein der avanciertesten Kader von ’68, besser: die bürgerliche Kleinfamilie. Die Erfahrung, die der Aversion zur F. voranging, war eine des lähmenden Schweigens am Mittagstisch, der Leistungsanforderungen, der kalten Schlafzimmer und des Gummibaums in der Stube, möglicherweise auch misslungener ödipaler Entflechtungen wie überhaupt falscher Ehen. F. galt als Hort der Verderbnis, hier wurden Kinder und Frauen geknechtet und geknetet für das Funktionieren des Kapitalismus. In F. wurde das gezüchtet, was Adorno und Horkheimer als –>autoritären Charakter begriffen.
Flohmarkt: Eine marktwirtschaftliche Form, eine Art Mall an frischer Luft, eine Institution, die sich aus – finanzieller Not geschuldeter – Mittelknappheit der Studenten heraus entwickelte. Auf F. fanden sich Kostbarkeiten, die ihre Vorbesitzer, aus Vorliebe zum Resopalhaften, auf die Straße stellten.
Flowerpower: Schlagwort der –>Hippiebewegung, die von San Francisco ausgehend die aus ihrer Sicht sinnentleerten Ideale der Wohlstandsgesellschaft infrage stellt und zur Abkehr von bürgerlichen Zwängen und Tabus aufruft. Erstmals geprägt wurde der Begriff angeblich 1965 vom Schriftsteller Allen Ginsberg. Unsterblich ist Scott McKenzies Songzeile: „If you go to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair“.
Fokustheorie: Sie beruht auf den Ideen Che Guevaras (1928–1967) und beinhaltet ein voluntaristisch genanntes Revolutionskonzept. Traditionelle Marxisten hatten bis zu Ches Schriften umständlich versucht, sogenannte objektive wirtschaftspolitische Gründe herauszudestillieren, nach denen eine Weltregion reif zum Umsturz sei und eine andere eben nicht. Nach dem Vorbild der kubanischen Revolution behauptete Guevara jedoch, dass ein Fokus, eine entschlossene Kerngruppe von Revolutionären genüge, um erfolgreich eine revolutionäre Erhebung in der ausgebeuteten ländlichen Bevölkerung auszulösen.
Funktion des Orgasmus: Floskel, die den esoterischen Schriften Wilhelm Reichs entnommen wurde – einem Theoretiker, der Ende der Fünfzigerjahre starb, aber seine Erkenntnisse in den Wirren des Ersten Weltkriegs gewann. Theorie: Ein tüchtiger, gemeinsamer, koital-genitaler Orgasmus ist behilflich, den Kapitalismus mit besonderer Energie subversiv zu unterlaufen.
Gammler: Sammelstichwort für alle, die dem deutschen Gartenzwerg nicht passten. Leute, die nicht arbeiten, herumsitzen, lange Haare trugen, Widerworte gaben, sich Befehl und Gehorsam aufreizend lässig widersetzten. Als Mittel, ihnen den Garaus zu machen, fielen im öffentlichen Leben häufiger Worte wie „Gaskammer“ oder Reisetipps wie „Geh doch nach drüben“.
Gastarbeiter: Der blinde Fleck von ’68. Ende der Sechzigerjahre hatten die G. längst den urdeutschen Proleten ermöglicht, Angestellte werden zu können, Arbeitnehmer in Berufen, bei denen sie sich nicht die Finger schmutzig machen mussten. Nun fegten und kehrten G. den Müll weg. Die Schriftsteller Emine Sevgi Özdamar hat in „Die Brücke vom Goldenen Horn“ auch ihnen ein Denkmal gesetzt; die elenden Schattenseiten des Daseins als G. hat Günter Wallraff in den frühen Siebzigern dokumentiert in seinen „Industriereportagen“. ’68 kannte Ausländer nur als Genossen und Genossinnen aus unterdrückten Ländern, nicht als Deutsche in spe.
Große Koalition: Im Oktober 1966 zerbricht die Bonner Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP. Rasch einigen sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD auf die Bildung einer großen Koalition. Bereits am 1. Dezember 1966 wählt der Bundestag Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum neuen Bundeskanzler. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt wird neuer Bundesaußenminister. Die „Superregierung“ der g. K. strebt als Hauptziele die Beendigung der Wirtschaftskrise und die Verabschiedung einer Notstandsverfassung an. Die Notstandsgesetze treten am 28. Juni 1968 trotz aller Proteste, vor allem von der –>APO, in Kraft.
Haschrebellen: Mit der Ermordung Benno Ohnesorgs durch die Polizei am 2. Juni 1967 radikalisierten sich auch die subkulturell orientierten Ausläufer der Protestbewegung. Insbesondere in Westberlin entstanden aus dem sich –>antiautoritär verstehenden Milieu erste Vorläufergruppen der westdeutschen Stadtguerilla. Sie trugen Namen wie Schwarze Ratten, Tupamaros West-Berlin, firmierten als Blues und richteten sich polemisch gegen die aufkommenden studentisch-marxistischen Orthodoxien. Im rigiden Umfeld der postfaschistischen Bundesrepublik propagierten die Haschrebellen andere Drogenpraktiken und nichtkonsumistische Lebensweisen. Über die Entwicklung dieser Szenen zwischen „Spaßguerilla“ und anti-israelischen, -amerikanischen Aktionismus geben exemplarisch Auskunft: Ulrich Enzensberger „Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967–1969“ (Köln 2004) und Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, „Die Bewegung 2. Juni“ (Berlin 1995).
Hippies: Angehörige einer in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre in den USA entstandenen Protestbewegung, in der Jugendliche gegen die Wohlstands- und Leistungsgesellschaft rebellierten. Der in ihren Augen „sinnleeren“ Mittelstandsgesellschaft stellten die Hippies das Ideal einer „sinnerfüllten“, von bürgerlichen Wertvorstellungen und Zwängen freien Welt entgegen (–>Flowerpower), das sie in freien, naturbezogenen, auf ekstatisches Glückserleben in Liebe, Musik und Rauschmittelgenuss gerichteten Gemeinschaften zu leben versuchten.
Imperialismus: Natürlich wusste auch die Studentenbewegung, dass das Zeitalter des klassischen I. mit dem Ersten Weltkrieg vorbei war. Mit diesem endete die europäische Expansionswelle, die versuchte, in kolonialistischer Absicht Weltreiche zu bilden. Doch im Gefolge von Kongo- oder Kuba-Krise, Algerien- oder Vietnamkriegen sahen viele das alte Muster eines rassistischen I. weiter wirken, an deren Spitze nun alleinig die USA stünden. Im Namen des „Anti-Imperialismus“ sollte die Neue Linke in der Bundesrepublik bald ihre verheerendsten Fehler begehen. Erste Anzeichen waren Ende der 1960er bereits in den Anschlägen auf US- oder israelische Einrichtungen sichtbar. Frantz Fanon (1925–1961) begründete ausgehend vom algerischen Unabhängigkeitskampf das Gewaltprinzip als universellen Katalysator für die antikoloniale Erhebung. Sein 1961 erschienenes Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ war lange Zeit so etwas wie die Bibel der „antiimperialistischen Linke“.
Kapitalismus: Das Mantra des Protests überhaupt. Gegen den musste was getan werden, auf dass er zum Sozialismus umgemodelt werden konnte. K. war die Antwort auf alle Probleme, ökonomisch, sexuell, moralisch und überhaupt. K. galt als teuflisch, weil dieses System die Menschen dazu bringt, in Lohn und Brot zu stehen und sie daran hindert, miteinander zu sprechen, sich gut zu verstehen, und außerdem war K. ein anderes Wort für USA, und die führten in Vietnam gegen Vietnam Krieg, einen imperialistischen Krieg.
Kommune: Wohnform, geboren aus dem Umstand, dass es nicht genügend Studentenzimmer gab und die wenigen Privatzimmer häufig von Vermietern angeboten wurden, die sich wie Gestapobeamte in die Privatsphäre ihrer Mieter einmischten. Die K. war das Lifestyleangebot, um der Vereinsamung, der Vereinzelung im –>Kapitalismus zu entgehen: Gemeinsam, jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie, ohne Konkurrenz und viel Zärtlichkeit ein Leben zu leben, das in sich die Utopie vorwegnimmt. Heute heißt das alles WG wie Wohngemeinschaft und funktioniert nur selten.
Kritik: Der Wahnsinn für Kleingeister. Eigentlich nichts als die Übung, Dinge zu unterscheiden, sie zu wägen und zu beurteilen. Aber K. stand für Ätzendes, für die Kraft der Zersetzung – Menschen, die K. scheuten, sahen es oft darauf ab, die Dinge nicht hinterfragen zu lassen. K. war nötig gegen die Autorität der Institutionen, gegen die Väter und Mütter, außerdem für alle möglichen Umstände, in Schule und Beruf.
Kulturrevolution: Fanal aus China, hierzulande missverstanden als Aufbruch mit menschlichem Antlitz. Maoisten träumten von der K. und wollten, dass sie auch bei uns gelebt wird. Von dieser Hoffnung blieb nichts. Heute wird das Wort Kultur gern verballhornt: Kultur des Sprechens, des Mutes, des Lebens, der Schönheit. Kultur kann offenbar alles sein und damit nichts.
Nonkonformismus: Jemand, der dem N. anhängt, gibt zu verstehen, besonders zu sein. Ein Eigenbrötler, Individualist, ein Exzentriker, einer, der auf seine Macken hält, nicht auf das, was die Mehrheit, die spießige, vorgibt. Niemand will heute mehr Konformist sein, alle halten auf Eigenes. Reinhard Mey hat in seinem Lied „Annabelle“ sowohl die kruden Auswüchse erster Feministinnen attackiert wie auch bekannt gegeben, dass er sich niemals eingemeinden lassen will.
Ödipus: Held der Psychoanalyse, den französische Philosophen wie Michel Foucault als ewigen Sisyphos des bürgerlichen Regimes begriffen, auch seine Landsleute Gilles Deleuze und und Félix Guattari empfanden so. Ihre wissenschaftliche Lieblingsfigur nannten sie Antiödipus, der im Hader mit den Mächten sich von keinem übermächtigen Vater mehr umhauen lässt. Die Psychoanalyse hatte viele Vokabeln zur Zeit von ’68 beigetragen, etwa Verdrängung oder Unbewusstes.
Pahlevi, Reza: Mohammad Reza Schah Pahlavi (1919–1980), letzter Herrscher auf dem persischen Pfauenthron, musste am 16. Februar 1979 vor der Revolte linker und islamistischer Kräfte außer Landes fliehen. Putschte 1953 mithilfe von US-Geheimdiensten gegen die demokratisch gewählte Regierung von Mohammad Mossadegh. Gegen die Mullah-Diktatur scheint der Schah heute auch der Linken fast schon als ein harmloser Zwerg. Doch in den 1960ern galt der Handlanger des US-Öl-Imperialismus als einer der fiesesten Gewaltherrscher weltweit.
Prager Frühling: Versuch der tschechoslowakischen Kommunisten, sich von Moskau loszusagen und einen Sozialismus demokratischer Art zu etablieren. Im August 1968 marschierten die Staaten des realen Sozialismus in die ČSSR ein – Alexander Dubček wurde entmachtet, der Moskauer Sozialismus erholte sich von dieser Aggression nie.
Randgruppenstrategie: Weil das Proletariat, so die Theorie, satt und faul ist, wird es keine Revolution machen. Die Unterdrückten seien eher Randständige, Heimbewohner, Alte, Psychiatrieinsassen, Obdachlose. Brächte man sie zusammen, wird eine Revolution möglich. Diese R. irrte in Gänze.
Sexfront: Günter Amendts Bestseller, der die Jugend dazu ermutigte, sexuell zu probieren, was eben so geht. Auch steht dort lupenrein geschrieben, dass vom Wichsen das Rückenmark nicht schwindet und dass Sperma nicht nur für die Besamung einer weiblichen Eizelle gut ist. Aus heutiger Sicht birgt es nur Banales, aber damals konnte S. als Bibel des nichtspießigen Körperlebens verstanden werden.
Situationismus: Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine von 1957 bis 1972 existierende Gruppe aktivistisch orientierter Künstler, Stadtplaner und Theoretiker. Sie begriff sich in der Tradition der klassischen Avantgarden (Dada- und Surrealismus), vertrat also neben der Negation des kapitalistischen Betriebs eine Aufhebung der Trennung von Kunst und Politik und deren Überführung in eine unmittelbare radikale Lebenspraxis. Ihre bekanntesten Vertreter waren der Maler Asger Jorn sowie der Theoretiker Guy Debord („Die Gesellschaft des Spektakels“). Deutsche Ausläufer fanden sich in der Gruppe Spur in München oder der Kommune 1 in Berlin. Von Spaßguerilla, Punk bis zu heutigen Kunst- und Popphänomenen geht vieles auf das Wirken des Situationismus zurück.
System: Weil es kein richtiges Leben im Falschen (Theodor W. Adorno) gibt, muss alles, was einen umgibt, mehr sein als Gesellschaft, nämlich das S. Unter S., eigentlich eine technische Vokabel, wurde das ganze undurchschaubare Regelwerk der bürgerlichen Gesellschaft verstanden. Niklas Luhmann hatte mit Sozialismus nix im Sinn, aber mit seiner Systemtheorie die wichtigste soziologische Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts entwickelt.
Trampen: Im Lexikon steht, das Trampen sei eine Form des preisgünstigen Reisens. In Wahrheit ging es um das T. als solches, als Suchbewegung mit dem Daumen zur Seite gereckt, um Mitfahrgelegenheit buhlend, hoffend, dass der Fahrer oder (seltener) die Fahrerin freundlich ist und gute Geschichten zu erzählen hat. Durch etliche Gewaltfälle von Autofahrern gegen Tramper – die wiederum den Trampern angedichtet wurden, vor allem durch die bürgerliche Presse – kam das T. in Verruf.
Utopie: Im Hier & Jetzt zu leben war für ’68 das eine, das andere die Pflege von Utopien, die religiös anmutende Ausformulierung dessen, was sein könnte, wenn es denn gegen die Herrschenden, das –>System, den –>Kapitalismus endlich wahr würde. U. ist die Letztvokabel gegen alle Pragmatiker, deren Blicke traurigerweise nie über den Horizont hinausschauen wollten.
USA–SA–SS: Objektiv antisemitische Demonstrationsformel – nicht selten gehört während der Ära von ’68. Wegen Vietnam wurden die USA beschuldigt, dort einen ebenso großen Völkermord zu veranstalten wie die Nationalsozialismus an den Juden und in Osteuropa. Kritiker sehen dies als deutsche Entlastungsformel.
ANDREAS FANIZADEH, Jahrgang 1963, leitet das taz-Kulturressort; JAN FEDDERSEN und WOLFGANG GAST, Jahrgänge 1957 und 1958, haben das taz-’68-Dossier koordiniert