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Archiv-Artikel

Das war das Leben!

Nicht Politkader, die Hippies waren die eigentlichen Revolutionäre wider die Spießer – zumindest für Jugendliche in der Provinz

VON MATHIAS BRÖCKERS

Vierzehn war ich, ging aufs altsprachliche Gymnasium einer katholischen Kleinstadt und wurde vom Vizedirektor Dr. Henke einmal so geschlagen, dass ich aus beiden Nasenlöchern blutete. Vor der großen Pause hatte ich meinen Turnbeutel nicht am Haken aufgehängt, sondern auf den Boden gelegt. Das war sein Grund. Jahre zuvor, auf der Volksschule, hatten Lehrer noch mit dem Rohrstock geprügelt; einem Schulkameraden wurde mit einer Ohrfeige das Trommelfell zertrümmert, ein anderer von einem Schlüsselbund eines Lehrers am Auge getroffen.

So ging es zu in deutschen Bildungsstätten der Sechziger, autoritär und brutal, was kaum wundert, denn gut die Hälfte des Lehrerkollegiums bestand aus ehemaligen Nazis. Sie hatten vielleicht Teile ihrer einstigen Gesinnung abgelegt, nicht aber ihre Vorstellungen von Ordnung, die sie natürlich auch an die Referendare und Junglehrer weiterzugeben versuchten. Und dieses Erbe wäre wohl bis heute nicht gestoppt (Bayern schaffte die Prügelstrafe erst 1980 ab), hätte die antiautoritäre Bewegung dieser gewalttätigen Pädagogik nicht ein für alle Mal ein Ende gesetzt.

Dass Schlägertypen wie der Vizedirektor einst höhere Tiere der lokalen SS waren, erfuhr ich erst später, aber es passte ins Bild, dass er – nachdem Schülervertreter für das Schulfest statt Geigenorchester und Schulchor eine „Beatband“ durchgesetzt hatten – das Konzert stoppte, indem er den Strom in der Turnhalle abdrehte. Oder den Chef der Schülerzeitung von der Schule werfen wollte, weil er Texte über Empfängnisverhütung gedruckt hatte.

Kein Sex, kein Rock ’n’ Roll und als einzige Droge der Suff – wen wundert es da noch, dass von faschistoiden Spießern gepeinigte Jugendliche in der deutschen Provinz die Verheißungen von ’68 aufsaugten wie Manna in der Wüste. Politik spielte nicht die Hauptrolle, wobei man aber auch schon als Vierzehnjähriger irgendwie bezweifelte, dass „unsere Freiheit“ durch das Bombardieren von Reisbauern in Vietnam verteidigt werden musste. Mit Antiamerikanismus hatte das nichts zu tun – im Gegenteil war ja alles aus Amerika großartig –, sondern einfach mit Gerechtigkeitsempfinden.

„Unsere Freiheit“ mussten wir zentimeterweise erkämpfen: als Junge um die Länge der Haare und als Mädchen um die Kürze der Röcke; Freiheit war auch, statt Schlager im Radio AFN (American Forces Network) zu hören, den einzigen Sender mit Popmusik. Als die Idee, im Sommer 1969 mit drei Freunden nach Amsterdam zu fahren, von allen Eltern abgelehnt wurde, entsannen wir uns unserer Mitgliedschaft bei den Pfadfindern – ein Zeltlager mit Radtour am Niederrhein wurde genehmigt.

So radelten wir unerlaubt in zwei Tagen nach Amsterdam. Im Vondelpark tanzten Hippies, im Bahnhofsviertel posierten – unfassbar! – Prostituierte in Schaufenstern, und am Abend im „Paradiso“, als die Band gerade zu spielen anfing, tippte mir ein Schwarzer mit Bart und Afromähne auf die Schulter, grinste und reichte mir den ersten Joint meines Lebens. Im „Paradiso“ waren wir nun jede Nacht, und wenn es um 3 Uhr schloss, radelten wir auf den Campingplatz, sammelten das Leergut vor sämtlichen Zelten ein und finanzierten mit dem Pfandgeld den Eintritt für den nächsten Abend.

Von einer Wirkung des Haschischs verspürte ich erst mal wenig bis nichts, dafür war das Ritual und das ganze Umfeld umso beeindruckender. Die Musik, die psychedelischen Lightshows, die wunderschönen Frauen, die Hippiewelt – von San Francisco kommend war der „Summer of Love“ in Europa gelandet und wir, eben noch Pfadfinder à la Fähnleinführer Fieselschweif, waren mit einem Mal mittendrin. Das war das Leben!

Im Kino sahen wir „Easy Rider“, und am Ende, als Peter Fonda und Dennis Hopper von spießigen Farmern einfach abgeknallt werden, musste ich an unseren Vizedirektor denken. Das waren die Gegner, die meiner, unserer Freiheit entgegenstanden. Wir kauften uns Bananenlenker und fühlten uns auf den Fahrrädern wie Easy Rider auf ihren Harley-Choppern. Und am Ende reichte das nächtlich erbeutete Pfandgeld auch noch für zwei Gramm Haschisch, das ich in einer präparierten Klopapierrolle nach Hause schmuggelte.

Ich hütete es wie einen Schatz, nur mit den allerbesten Freunden in absolut sicherer Umgebung wurde in winzigen Portionen davon geraucht. Immer noch war das Ritual wichtiger als die eigentliche Wirkung, an die man sich erst mal herantasten musste – aber mit dem verbotenen Rauch inhalierten wir den Geist der neuen Zeit: weniger Ideologien und Parolen, sondern Haltungen, Kultur und Lebensstil, vermittelt weniger über Verstand und Vernunft, als über Sinne und Gefühle. Das war das eigentlich Neue, Grenzüberschreitende und – für uns Teenager in der Provinz – eigentlich Revolutionäre.

Die Studenten, die Demos und Dutschke waren weit weg, unsere Politisierung fing damit an, den Friseur zu verweigern und im Sommer in batikgefärbten ärmellosen Unterhemden – T-Shirts gab’s noch nicht – zur Schule zu gehen. Und daneben unsere Sinne zu erweitern: mit Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Unsere Helden waren nicht die Politniks und Kommunisten, sondern die Beatniks und Kommunarden.

Ein paar Jahre später, als Politikstudent in Berlin, erfuhr ich dann, dass es sich bei dem, was ich mir unter Freiheit vorstellte, nur um Dekadenzerscheinungen des bürgerlichen Mittelstands handelt, da die wahre Revolution angeblich nur an der Seite des Proletariats erkämpft werden kann. Doch in den verschiedenen „Kapital“-Kursen und marxistischen Gruppen, die ich so durchlief, ging es fast genauso verkrampft wie zuvor auf dem Gymnasium, Lachen war verboten – und richtig feiern konnten diese Kommunistenköpfe irgendwie auch nicht. So landete ich, parteipolitisch gesehen, bald im Nirgendwo einer undogmatischen hedonistischen Internationalen.

Meine Zwischenbilanz nach fast 40 Jahren ’68 fällt schon deshalb positiv aus, weil mein Sohn in der Schule nicht mehr geschlagen wurde – und weil in meiner Klasse nur zwei den Kriegsdienst verweigerten und alle anderen zur Bundeswehr gingen, während sich das Verhältnis bei seinem Abitur 2001 ziemlich genau umgekehrt hat.

Damit ist der wohl der größte zivilisatorische Fortschritt benannt, den Deutschland im 20. Jahrhundert gemacht hat. Er verdankt sich der Kulturrevolution der Sechziger. Und zwar weniger den linken Parteikadern samt SDS, sondern den Hippies und LSD. Die Ideen der Blumenkinder, Stadtindianer und der Spaßguerillas haben bis heute Bestand. Umweltbewusstsein, diese Urhippieidee, ist als Klimaschutzfarce sogar bei der Bild-Zeitung angekommen. Es wird Zeit für die nächste Revolution.

MATHIAS BRÖCKERS, Jahrgang 1953, ist bekennender Haschrebell, Computerdekonstruktivist, taz-Autor sowie Weltverbesserer. Er hat sich nie von den Pfadfindern losgesagt