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Kapitel 23
Hast du schon gehört? Cems Vater sitzt im Knast!“
Die Neuigkeit verbreitete sich an der Schule wie ein Lauffeuer. Es kursierten die wildesten Gerüchte über den Vorfall. Cems Vater ist ein Drogendealer! Völliger Quatsch, es geht um Schutzgeld! Nein, eine Schlägerei zwischen ihm und einem Cousin, auf einer türkischen Hochzeit ist der wahre Grund, behaupteten Ali und Eytun, die auf derselben Feier gewesen sein wollten. Wie von allein bildeten sich Gruppen aus Arabern, Deutschen, Türken, die jeweils versuchten, ihre Kenntnisse vor den anderen geheim zu halten und dadurch wichtiger erscheinen zu lassen. Dazu kamen die einfach nur Neugierigen. Das waren die Schüler, hauptsächlich Mädchen, die sich wie Vampire von Tratsch ernährten. Um an Futter zu gelangen, sind sie hilfsbereit, hören verständnisvoll zu und sagen: „Ich schwöre: Du hast voll recht, mit dem was du sagst. Ist wirklich meine Meinung. Ich hab nie geglaubt, was die anderen sagen.“ Sie liefen aufgeregt zwischen den verschiedenen Grüppchen hin und her, um auch nicht die kleinste Kleinigkeit zu verpassen. Für sie war es ein guter Tag.
Aber auch Adnan und Eytun gaben alles. „Jetzt hört zu“, begann Eytun, als er fand, sie hätten genug Zuhörer um sich gescharrt, „Wir waren mit unseren Eltern auch auf der Hochzeit. Stimmt’s, Adnan? Ich hab mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Cems Vater ausgerastet ist.“
„Nee, der hat einen Armenier beleidigt, die Türken hassen Armenier.“ mischte Tigran sich ein. „Alle hassen Armenier. Aber in Deutschland ist Beleidigung verboten. Darum sitzt er im Knast.“
„Oder er hat seine Frau verprügelt.“
Szusza schubste sich in den Kreis, der sich in der Raucherecke gebildet hatte. Hamid war sofort auf Hundertachzig. „Pass mal auf, Alte, wenn du mich noch einmal berührst, hau ich dir auf die Fresse.“
„Du willst mir auf die Fresse hauen? Bitte sehr. Ich warte. Du Spast!“ Szusza wippte kampfbereit in den Knien. „Ihr seid armselige Idioten. Bei euch gibt es nur drei Schubladen, wenn es um Türken geht: Mafia, die Familie oder Drogen. Ich möchte echt nicht wissen, wie ihr es aufs Gymnasium geschafft habt.“
Frau König und Frau Alev, die Pausenaufsichten, drehten ihre Köpfe zu dem aufgeregten Pulk. Laura machte zwei schnelle Schritte auf Szusza zu und zog sie am Ärmel aus der Gefahrenzone.
„Lass mich los!“
„Ey, gucken vielleicht die Lehrer? War da nicht was mit dir und einem gebrochenen Nasenbein? Reiß dich zusammen. Die Penner blicken doch sowieso nichts. Die“, jetzt sprach sie laut in die Richtung der Jungs, „die sind nicht den Dreck unter deinen Fingernägeln wert. Ihr Kakerlaken.“
Endlich ließ Szusza sich wegzerren. Was mit Cems Vater wirklich passiert war, wussten sie aber ebenso wenig wie die Tutoren, die von allen Seiten bestürmt wurden. „Das geht uns nichts an. Wir machen hier ganz normalen Unterricht und ihr haltet euch bitte zurück mit unbewiesenen Verdächtigungen“, war alles, was aus ihnen herauszubekommen war.
Nach der zehnten Stunde machte Goldstück sich auf die Suche nach Cem. Im Späti, in dem sein Kumpel arbeitete, war er nicht. Auch nicht auf ihrer Wiese im Volkspark. Einfach zur Wohnung der Familie zu gehen, fanden sie … irgendwie nicht richtig. So dicke waren sie nicht, keiner von ihnen hatte ihn schon mal zu Hause besucht, stellten sie erstaunt fest. Auf einer Bank vor der Sparkasse trafen sie immerhin seinen Cousin, der aber auch nichts Genaues wusste und nur bestätigte, dass der Vater wirklich im Knast saß. Aber wo? Und warum? Keine Ahnung. Gibt wenig Informationen, sagte er. Im Wohnzimmer der Familie Demir würde gerade der Familienrat tagen, aber Cem hätte sich verdrückt. Vielleicht hänge er im Café Paradies ab. Er hing. Die drei erzählten, was in der Schule los war. Als sie bei der Fastprügelei angekommen waren, haute Cem anerkennend auf Szuszas Schulter. „Danke, du bist echt ein Kumpel!“ „Ach, Ehrensache!“
Cems Vater saß tatsächlich im türkischen Knast. Er war vor drei Monaten in die Türkei gereist, um seiner kranken Mutter beizustehen. Geplant war ein Besuch von drei, vier Wochen, aber dann verschlechterte sich der Zustand der Oma, sie kam ins Krankenhaus. Bauchspeicheldrüse, da gibt es keine Hoffnung, man kann nur auf den Tod warten. Sie wollte unbedingt wieder nach Hause, und da Cems Vater ihr ältester Sohn war, musste er bei ihr bleiben. Man lässt seine Mutter nicht alleine sterben. Es wurden quälende zwei Monate, bis sie es schaffte. Sie wollte nicht mehr essen, nur mal einen Löffel Honig oder Milchreis und wurde immer kleiner. Aber jedes Mal, wenn sie wach war, griff sie nach seiner Hand, zog ihn an ihr Bett, streichelte ihn lange und wie hätte er sie in dieser Situation verlassen können? Schnell wurden aus geplanten vier Wochen drei Monate und zwei Tage. Nach drei Monaten braucht man aber ein Visum. Das hatte er nicht.
„Ey, wieso braucht der ein Visum? Wenn wir nach Ungarn fahren, dann fahren wir einfach“, unterbrach Szusza ihn.
„Mein Vater besitzt den deutschen und den türkischen Pass. Eingereist ist er mit seinem deutschen Ausweis und damit darf man nicht länger als drei Monate in der Türkei bleiben.“
„Ach! Warum ist er nicht als Türke zu seiner Oma gefahren?“
„Weil er nie seinen Wehrdienst gemacht hat, darum gilt er da als Fahnenflüchtiger.“
Matteo traute sich als Erster, die Frage zu stellen, die allen dreien auf der Zunge lag. „Cem, deine Oma ist gestorben, das ist voll traurig, warum hast du uns nichts davon erzählt?“
Cem zuckte mit den Schultern.
Matteo traute sich als Erster, die Frage zu stellen, die allen dreien auf der Zunge lag
■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de