Die Neoruralen

Rüben aus der Erde ziehen, den Zwischenhändler umgehen, faire Arbeit ermöglichen: Die Entfremdung zwischen Tisch und Feld hat mit solidarischer Landwirtschaft ein Ende

■ Mittwoch, 15. AprilGrundgedanken von SoLaWi & Vorstellung des Waldgartens. 20 Uhr, Berliner Büchertisch, Wühlischstraße 40

■ Freitag, 8. MaiTransitions Tour Berlin: Fünfstündige Fahrradtour zu Projekten der solidarischen Ökonomie, an denen man sich beteiligen kann. Anmeldung an: stadttouren@fairbindung.org

Am Anfang steht eine verbindliche Zusage: Privathaushalte schließen sich zu einer Gruppe zusammen; sie werden ein Erntejahr lang, von Mai bis April, „ihren“ Bauernhof unterstützen – unabhängig davon, ob es ein ertragreiches Jahr ist oder nicht. Sie werden je nach Absprache an mehreren Tagen im Jahr auf dem Hof mithelfen und -erleben, wie das Gemüse wächst, das sie später an einer der Verteilstellen in der Stadt an sich nehmen und zubereiten.

LandwirtInnen profitieren, da sie einen marktunabhängigen Preis für ihre Erzeugnisse erhalten, der ihnen Planungssicherheit und Arbeit ohne den üblichen Druck ermöglicht. Abgelegenere Höfe, die mittels Hofladenverkauf und Wochenmarkt nicht auf ausreichende Einnahmen kämen, können so dennoch an biologischer Anbauweise festhalten. Die Mitglieder einer Solawi-Gruppe profitieren, da sie frisches saisonales, regionales Gemüse erhalten, dessen Erzeugungsprozess transparent für sie ist. Aber da ist natürlich noch mehr drin. Das Vertrauen in die Produktionsweise erklärt auch die besondere Natur des ungewöhnlichen Tauschgeschäfts.

Denn man zahlt seinen Beitrag nicht für die Produkte, sondern für die Landwirtschaft. Der Erhalt kleinbäuerlicher Strukturen und der umweltschonende Betrieb der Höfe ist Teil des Deals. Deshalb steht am Anfang der Beitragsfestsetzung die Überlegung, wie viel Geld ein Hof tatsächlich braucht, um ein Jahr lang nicht industrielle Landwirtschaft zu betreiben. Einnahmeüberschüsse im herkömmlichen Sinne gibt es nicht: Geht die Saat besonders gut auf, bekommen die Mitglieder der Kooperative eben einen größeren Ernteanteil. Je nach Hof gibt es auch Kräuter, Milch, Brot, Honig oder Fleisch und gelegentlich auch Besonderheiten wie Säfte. Manche Kooperativen bieten darüber hinaus ein solidarischen Bezahlmodell an. Denn auch Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sollen sich mit hochwertigen Bio-Lebensmitteln ernähren können. Wer glaubt, ein Ernteanteil sei zu viel für sich oder seinen Haushalt, kann die Nahrungsmittel mit Freunden teilen – das muss allerdings derzeit noch selbst organisiert werden. Ein Gemüsetausch im Fall von Unverträglichkeiten gegenüber bestimmten Sorten oder tiefer Abneigung gegen Rote Bete kann in der Gruppe kommunikativ organisiert werden.

Unter den verteilten Feldfrüchten finden sich natürlich auch die sogennanten Culinary Misfits, krummes Gemüse also, das im Gegensatz zu seinen genormten Gurkenbrüdern im Supermarkt einzigartig aussieht und die Fantasie des Betrachters erfreut. Durch den Anbau seltener Kulturpflanzen wird etwas für deren Erhalt getan und ganz nebenbei der Speiseplan um Schönheiten wie den Schildampfer erweitert. Verschwendung von Lebensmitteln wird vermieden. Und dank des Transports in Gemüsekisten kann auch der Verpackungsmüll eingespart werden.

Durch die Mithilfe auf den Höfen fühlt man sich, als habe man einen riesigen Garten vor den Toren der Stadt, erzählt eine Anhängerin der solidarischen Landwirtschaft in einem Info-Video. Der Konsument wird zum Prosument – der durch die direkte Verbindung zum kleinbäuerlichen Hof sowohl in Produktion als auch Konsum involviert ist. Die Prinzipien von Partizipation und Selbstorganisation schaffen einen Gegensatz zum überforderten Konsumenten in der unübersichtlichen Warenwelt des Konsumismus. Unterdessen muss in der industriellen Landwirtschaft die digitale Wende vollzogen werden, um konkurrenzfähig zu bleiben (Stichwort: satellitengesteuerte Mähdrescher).

Die Kreuzberger Solawi-Gruppe wird vom Ökohof Waldgarten beliefert. Der Hof liegt in Barenthin im Nordwesten Berlins. Über die Auswahl der angebauten Sorten wird gemeinsam entschieden. Ab Mai kann man neuer Teil der Kooperative werden: in der Ratiborstraße in Kreuzberg und in der Wühlischstraße in Friedrichshain sind neue MitstreiterInnen willkommen. Alle, die mehr über das Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft wissen möchten oder mitmachen wollen, sind zur Infoveranstaltung am 15. April in die Räume des Berliner Büchertischs in Friedrichshain eingeladen. Dort werden Mitglieder der Gruppe und Frank Wesemannder vom Ökohof Waldgarten vorstellen, was Solawi genau ist und was sie praktisch bedeutet.

DONATA KINDESPERK