: Ungarn: Katastrophe oder radikale Wende?
■ Ökonomen legen Vorschlag für die Reform des wirtschaftlichen und politischen Systems vor / Forint soll vollständig konvertibel werden
Von Farkas Piroschka
Die ungarische Zahlungsfähigkeit ist seit Monaten zentraler Gegenstand Budapester Stadtgespräche. Jemand glaubt zu wissen, daß der Staatsbankrott schon im nächsten Monat erklärt werden müsse. Andere dagegen meinen, hinter dem Rücken der Öffentlichkeit hätte die Regierung bereits den Offenbarungseid geleistet. Das Gerücht über den drohenden finanziellen Zusammenbruch hält sich so hartnäckig, daß vor Wochen ein Wirtschaftsfachmann vor der Öffentlichkeit im ersten Fernsehprogramm erklären mußte, so weit sei es noch nicht gekommen. Die um die drohende Zahlungsunfähigkeit rankenden Gerüchte zeigen die Stimmung im Lande. Während Partei und Regierung seit Jahren lautstark von der angeblichen Verwirklichung des Reformprogramms reden, hat der zum Verbraucher verdammte Normalbürger das Gefühl, daß keine wirklichen Veränderungen stattfinden, die Schritte, zu denen sich die Regierung mühsam durchringen konnte (zum Beispiel die Bankenreform, wir berichteten darüber im Januar 1987) entpuppen sich als Scheinlösungen. Von der Bevölkerung wird die Reform immer mehr mit sinkendem Lebensniveau, Preiserhöhungen, drohender Arbeitslosigkeit und kopflos überstürzten staatlichen Maßnahmen gleichgesetzt. Letztere Feststellung ist fast wörtlich in einer voluminösen Studie zu lesen, die von einer Gruppe der sogenannten „Reformökonomen“ im März beim Wirtschaftsrat der „Ungarischen Patriotischen Front“ (Sammelbecken aller nicht–kommunistischen Organisationen, vom Verband der Roma bis zum Videofreund) eingereicht wurde. Schon die Entstehungsgeschichte der Eingabe entbehrte nicht der politischen Brisanz: Staatliche Organe haben es bisher stets abgelehnt, sich mit Konzepten zu befassen, die nicht von ihnen bestellt und deren Verfasser nicht von ihnen benannt wurden. In Anwesenheit der offiziellen Creme des ungarischen geistigen Lebens - sie umfaßt alle politischen Richtungen von der „Opposition nahestehend“ bis hin zum ZK–Mitglied - wurde nun im Wirtschaftsrat der Entwurf diskutiert und schließlich überarbeitet. Das Werk mit dem Titel „Wende und Reform“ ist aus der Angst heraus geboren, der drohende und unter den gegenwärtigen Bedingungen als unabwend bar erscheinende wirtschaftliche Zusammenbruch könne einen gesellschaftlichen Kollaps zur Folge haben, den kein verantwortungsvoll denkender Mensch für wünschenswert halten kann. Für die größte Gefahr der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung halten die Verfasser den Verlust der Perspektiven: Der Bevölkerung werden seit Jahren vor allem in der Form von inflationären Preiserhöhungen große Opfer abverlangt, eine Wende zum Besseren ist jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil, der verschwenderische Umgang der Staatsbetriebe mit den Ressourcen setzt sich fort, die Auslandsverschuldung hat eine realistischerweise nicht mehr rückzahlbare Größenordnung erreicht, der technologische Rückstand Ungarns hinter den führenden Industrienationen ist inzwischen größer als der der Entwicklungsländer. Große, von der Strukturkrise betroffene Wirtschaftszweige wie die Hüttenindustrie und der Kohlebergbau zusammen mit der Mehrheit der unbeweglichen und uneffektiv arbeitenden Mammutmonopole verschlingen die von den wenigen wettbewerbsfähigen Betrieben produzierten Überschüsse. Die infolgedessen dramatisch steigende Staatsverschuldung wird seit Jahren durch ausländische Kredite finanziert. Aus politischen Gründen muß ein für sozialistische Verhältnisse hohes Versorgungsniveau auf dem inländischen Markt aufrechterhalten werden, denn dies war bis jetzt die wichtigste Garantie für die Ruhigstellung der 1956 mit Gewalt niedergehaltenen gesellschaftlichen Kräfte. Und weil unter diesen Bedingungen die allgemeine Versorgung den Rang einer politischen Zielsetzung erhält, ist der Staat den von ihm selbst geschaffenen Monopolen ausgeliefert - auch was die Durchsetzbarkeit der Wirtschaftsreform betrifft. Die Struktur der Wirtschaftslenkung sei zwar seit 1968, dem offiziellen Anfang der ungarischen Wirtschaftsreform, etwas flexibler geworden, aber weiterhin überwiegt das Herumkommandieren durch Ministerien und Behörden. Die „Wechselbäder“ von künstlicher Drosselung und ebenso künstlicher Dynamisierung haben zur Verschwendung der Reserven und zur Herausbildung einer allgemeinen Vertrauenskrise geführt. Gleichzeitig ist es offenkundig geworden, daß auch die östliche Wirtschaftsgemeinschaft RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) in einer allgemeinen Krise steckt. Der industriellen Verschwendung setzt die Unwilligkeit und Unfähigkeit der Sowjetunion, Rohstoffe weiterhin im gleichen Umfang zu liefern, Grenzen. Nichts ist für die Krise des RGW kennzeichnender, als daß seit Jahren die wirklich wichtigen Geschäfte zu Weltmarktkonditionen in Westwährungen getätigt werden. Den Ausweg aus dieser Lage sehen die Autoren in einer grundlegenden Reform der Wirtschaftsstruktur und -lenkung und in einer damit organisch verbundenen Reform des politischen Systems. Am Anfang dieser Vorhaben müsse die offene Selbstkritik der Regierung stehen, sie müsse für die Fehler der Vergangenheit die volle Verantwortung übernehmen. Kurzfristige Erfolge können nicht bewirkt werden. Im Gegenteil, zunächst müsse mit einer weiteren Verschlechterung der Lebensumstände gerechnet werden: Das sei der Preis für den überheblichen Voluntarismus der vergangenen 40 Jahre. Wird jedoch der Bevölkerung ermöglicht, sich an der Debatte und der Ausführung zu beteiligen, kann ein nationaler Konsens herbeigeführt werden. Als eine weitere grundlegende Bedingung für den Konsens wird die Abschaffung von unbegründeten Privilegien gewisser Schichten genannt - gemeint ist eindeutig die sozialistische Funktionärsschicht. Den wirtschaftlichen Vor schlägen liegt das Konzept der konsequenten Monetarisierung der Wirtschaftslenkung zugrunde. Klare Geldbeziehungen sollen das undurchsichtige und willkürliche System der staatlichen Umverteilung ablösen. Die Devisen– und Außenhandelspolitik darf nicht mehr staatlich monopolisiert bewirtschaftet werden. Für eine Übergangszeit schlagen die Autoren die öffentliche Versteigerung der für den Außenhandel bestimmten Devisenfonds vor, um den effektiv arbeitenden Betrieben von Anfang an bessere Entwicklungschancen zu ermöglichen. Die künstlich erzeugten Monopole sollen aufgelöst werden. Die ungarische Währung soll auf dem internationalen Devisenmarkt voll konvertibel werden, um die Wirtschaft langfristig dem Druck der internationalen Konkurrenz auszusetzen. Eine Steuerreform, die alle gleich behandelt, wird gefordert. Die von den Bürgern gezahlten Steuern sollen offen als solche ausgewiesen werden (durch die Einführung von Brutto– und Nettolöhnen), was ermöglicht, daß die staatlichen Almosen durch das Recht auf Sozialleistungen abgelöst werden. Die Partei soll sich konsequent aus der direkten Wirtschaftslenkung zurückziehen und sich auf eine ideologische Rolle beschränken. Alle Gesetze, die die Freizügigkeit der Arbeitskraft behindern oder beschränken, sollen aufgehoben werden. Die künstliche administrative Trennung der Bürger in Verbraucher und Unternehmer muß verschwinden. Weil es abzusehen ist, daß sich die unteren sozialen Schichten vor allem in der Anpassungsphase nicht allein werden behaupten können (gemeint ist vornehmlich die große Gruppe der unqualifizierten Hilfsarbeiter), müssen steigende Sozialausgaben eingeplant werden. Da die aber sicherlich niedriger sein würden als die bisherigen Ausgaben für die Subventionierung der betrieblichen Verschwendung, könnten die Defizite des Staatshaushalts trotzdem verringert werden. Es handelt sich hier um den politisch radikalsten Reformvorschlag in der sozialistischen Nachkriegsgeschichte. Die Chancen für die Verwirklichung stehen nicht sonderlich gut. Zwar deutet die Tatsache der offiziellen Zurkenntnisnahme darauf hin, daß Partei und Regierung die Gefährlichkeit der Lage erkannt haben. In der im nächsten Jahr stattfindenden großen Steuerreform sind einige diesbezügliche Vorschläge der Reformer berücksichtigt worden. Die Autoren des Reformkonzepts haben jedoch zu Recht darauf hingewiesen: Nur wenn das Reformpaket als ganzes verwirklicht wird besteht Hoffnung, die Katastrophe vermeiden zu können. Das System der staatlichen Umverteilung bildet die systemimmanente Machtbasis der sozialistischen Funktionärsschicht. Kann man von einer herrschenden Klasse erwarten - wie groß die Not auch sein mag -, daß sie ihre eigene Entmachtung in Gang setzt?
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