SCHWELLÄNGSTE

■ Literaturoffensive Neukölln stellte sich im Literaturhaus:Katrin Burmeister/Marie Graf/Thomas Weiner/Stefan Höppe/Clemens Birnbaum/Ni-Zan Salfeld/Anne Gollin/Peter Branske

Daheimbleiben will man nicht und der Geldsack ist fast leer

-also kein Kino, keine Kneipe, aber eigentlich will man ja mal wieder neue Leute kennenlernen: die, die keine Musik machen, die nicht malen, keine Skulpturen, keine Filme, kein Geld. Zur Literaturoffensive Neukölln, die zehn ihrer Autoren am 13. und 14.7. im Literaturhaus - eigentlich Heimstatt snobistisch attitüdenhafter Säcke - lesen ließ. „Keine Schwelle, Tür offen„ steht in der Ankündigung und so isses auch. Kenn ich da jemanden? - Den kenn ich doch! „Kennen wir uns nicht?“ Zum Glück kann man rauchen.

Die ganze Autoren-lesen-Mitgebrachtes-Bewegung entwickelte sich während des Häuserkampfes, erfahre ich; gelesen, zugehört, kritisiert und auch mal wohlwollend mit dem Kopf genickt wurde damals noch im Cafe am Winterfeldtplatz. Michael Wildenhain ist einer der wenigen aus jener Zeit, die sich einen Namen gemacht haben (sein Protagonist K war Held des bekanntesten Häuserkampfromans, jetzt gab's den dritten Preis im diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Rennen), andere sind immer noch dabei wie Detlef Krenz, nervös und klug wie der Mechaniker ist, würde man ihn eher in den Undergroundzentren des Pop vermuten, nicht bei der peinlichen Literatur. Jedoch: wenn es je eine Zeit peinvoller Selbstfindungs -/Darstellungsliteratur in der Neuköllner Offensive gab, so ist sie längst vorbei. (Und wenn es irgendwo so ist; es bringt doch immer Spaß, kostenlos jemandem zuzuschauen, der sich in der Öffentlichkeit zum Kaspar macht.) Krenz brilliert über Supermärkte („Hast du mal in einem gearbeitet?“ - „Ne (grinsend), alles Recherche.„) und hat vielleicht am deutlichsten gezeigt, daß gerade Vorleseliteratur doch was mit Pop, also Jungsein und Fun zu tun haben kann. Andere lesen lüstern von mageren Bernhardinern und 17jährig unerfahren schönen Früchtchen (Katrin Burmeister), andere von vom Leben genarrten, mittdreißiger ländlichen Kneipenbedienungen.

Zeitlupen: “... Statt dessen ging er zum Kühlschrank und nahm ein Bier heraus. Im Schließen drehte er sich langsam um. Elfi stand im Türrahmen. Da ließ Lipowski die Flasche fallen, und sie fiel und fiel, als hätte sie tausend Räume zu durchqueren... Dumpf zerbrach's auf dem Linoleum, und schauten sich die beiden an, und nicht aufs Unglück. Vernünftig war Elfis Ausdruck wie lange nicht mehr, und verständig bückte sie sich dann, sammelte die Scherben zusammen, er breitbeinig über ihr, wie sie zusammenwischte ... Ein neues Bier holte sie ihm und stellte es ihm hin. Der sich setzte.“ (Marie Graf)

Thomas Weiner berichtet von einem Boxkampf auf dem Nollendorfplatz, der ausgetragen wird, weil die Kontrahenten nicht zusammen ins Kino gegangen sind... Eine Episode aus seinem Roman „Der Schrei und sein Auge“. Berliner Bürger und Bürger aus Basel spielen eine Rolle.

Stefan Höppe tritt auf „Ein Mensch geht unter / das ist eine gigantische Ejakulation“, jung, hastig, bierverliebt, wie halt junge Leut so sind und sehr schön melancholisch: „Kopflose Köpfe umkreisen / der Augaupfel schaut auf die Uhr / und formen sich blasse Gedanken / zur endlos verworrenen Spur ...„

Clemens Birnbaum trinkt Tee am Morgen: „Und während ich den Tee so schlürfe, was durchaus nicht vulgär ist, sondern durch das Schlürfen wird der aufgebrühte Tee kurzfristig in Berührung mit der Luft gebracht und entfaltet ein frischeres Aroma ...„) Er ist gebildet, zuweilen lustig und hat die mit Abstand beste Vorlesestimme.

Ni-Zan Salfeld liest, wie zuvor schon Weiner, aus einem Roman „40 Jahre„. Sie ist schätzungsweise 25: „Kinder„, sagte Clemens, „die kommen jetzt wohl in das Alter, wo man Bäume ausreißen will.„ Megan (?) fuhr herum: „Du bist ja verrückt, es wollen doch nicht alle jungen Menschen Bäume ausreißen. Patrick und Renee sind still und freundlich. Ich kann mir nicht vorstellen, sie kämen bei der Dreigroschenoper auf die Idee, Bäume auszureißen.„

Und Anne Gollin: „Wiegt mich in farbige Träume / ihr Sätze, ihr Verse / schaukelt mich hoch in ein Zweig / und hinein in folgende Welt / die erscheint mir zu selten / ist zuviel wohl mir wert / werft mich aus diesem Wahlen (?) / ihr Worte, ihr Reime / brandet mich breiter ins Sinnlos / und spült mich empor / grünlich wenn's geht / in den Selbstmörder-Himmel (gibt's nicht! - d. Verf.) / ich will ihn einmal nur sehn / und dadurch vielleicht mein Motiv zu verstehn“. “ ... und sich träumt als baumgebaumtes Eins ...“ - vielleicht weil ich Mann bin und so innig weder mit Versen, Sätzen, noch mit Sein und Eins vertraut bin, gingen mir die Sätze der feministisch Halbprofessionellen irgendwann auf den Geist; na hör mal: „Baumgebaumtes Eins“.

Alle Vorleser sind interessanter, amüsanter, ernsthafter als der Klagenfurtdurchschnitt, den man jedes Jahr aufs Neue in Sammelbänden zu lesen kriegt und der immer noch schon in Kopf und Erleben dem unguten Altmännergeist eines Reich -Ranicki, eines Peter Härtling etc. pp. zu genügen sucht. Selbstlos hat Peter Branske (Nochleiter des Forums und Mädchen für alles in der Offensive) seit dem 17.1.'87 eine trickreiche, gute Mannschaft aufgebaut; man hofft auf den Aufstieg, man hofft auf eine Anthologie. Die Voraussetzungen sind gegeben. Und mit schlechtem Gewissen gegenüber den in Armut darbenden Dichtern hofft man, geizig wie man ist, auf weitere solcher Abende: kostenlos & interessant.

Detlef Kuhlbrodt

Außerdem lasen: Heiko Wimmen, Ulrike Gies

Literaturoffensive Neukölln, offene Leseabende jeden Montag ab 20h in der Galerie „Das Dasein an sich“, Mainzerstr. 22, 1/44 (U-Bhf. Boddinstr.)