: Die Bewunderung Nelson Mandelas
■ Jacques Derrida über den „freiesten Mann der Welt“ / Seine Verachtung für das Gesetz der Weißen spiegelt die Verachtung der Weißen für ihr eigenes Gesetz
Jacques Derrida ist Sprach- und Literaturwissenschaftler am Pariser „College de la philosophie europeenne“. Von Derrida ging die Initiative zu dem Buch „Für Nelson Mandela“ aus, in dem sich verschiedene Autoren auf ihre jeweilige Art an die Person Mandela annähern. Die Textsammlung ist auf deutsch bei Rowohlt erschienen. Ihr ist folgender Beitrag in stark gekürzter Form entnommen.
Bewundernswerter Mandela.
Punkt, kein Ausrufungszeichen. Ich mache nicht etwa deshalb keine Hervorhebung, um einen Enthusiasmus abzuschwächen oder um eine Begeisterung zu dämpfen. Anstatt nur zu Ehren von Nelson Mandela zu sprechen, möchte ich etwas über seine Ehre sagen, ohne - wenn möglich - in Lobpreisungen zu verfallen, ohne zu proklamieren oder zu applaudieren. (...) Mandela wird bewundernswert, weil er es verstanden hat, zu bewundern. Und was er verstanden hat, hat er in Bewunderung verstanden. Wie wir sehen werden, fasziniert er auch deswegen, weil er selber fasziniert war. (...)
Nelson Mandelas Bewunderung, so wie man sagen könnte, Nelson Mandelas Leidenschaft. Die Bewunderung des Mandela, ein doppelter Genitiv: Bewunderung, zu der er anregt und die er verspürt. Beide Formen von Bewunderung haben denselben Brennpunkt, in dem sie sich reflektieren. Wie ich schon sagte: er ist deswegen bewundernswert, weil er mit aller Kraft bewundert hat und weil er aus seiner Bewunderung eine Kraft gemacht hat, eine Kampfesstärke, die unberechenbar und ununterdrückbar ist. Er hat sie sogar zum Gesetz gemacht, zum Gesetz über den Gesetzen.
Denn was hat er letzten Endes bewundert? In einem Wort: das Gesetz.
Und das, was es in den Diskurs, in die Geschichte und die Institutionen eingeschriebenn hat, also das Recht.
Ein erster Beleg - denn er spricht als Anwalt während eines Prozesses, während seines Prozesses, den auch er führt, den er seinen Anklägern im Namen des Rechtes macht:
„Die Hauptaufgabe der Gegenwart ist die Beseitigung der Rassendiskriminierung und die Erlangung demokratischer Rechte auf der Basis der Freiheitscharta. (...) Aus meiner Lektüre der marxistischen Literatur und aus Gesprächen mit Marxisten habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Kommunisten das parlamentarische System des Westens als undemokratisch und reaktionär ansehen. Ich dagegen bewundere ein soches System. Die Magna Charta, die „Petition of Rights“ und die „Bill of Rights“ sind Dokumente, die von Demokraten in aller Welt sehr geschätzt werden. Ich habe eine große Hochachtung vor den politischen Institutionen und dem Rechtssystem in Großbritannien. Ich betrachte das britische Parlament als die demokratischste Institution der Welt, und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der englischen Gerichtsbarkeit haben immer meine größte Bewunderung hervorgerufen. Der amerkanische Kongreß, das in den USA herrschende Prinzip der Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit der Justiz beeindrucken mich in ähnlicher Weise.“
Aber wenn er diese Tradition bewundert, ist er dann auch einfach ihr Erbe? Ja und nein, je nachdem, was man unter Erbschaft versteht. Als echten Erben kann man denjenigen ansehen, der sein Erbe bewahrt und vermehrt, aber auch denjenigen, der die Logik des Vermächtnisses so sehr respektiert, daß er sie gelegentlich gegen die wendet, die sich als seine Hüter ausgeben, und gegenüber den Usurpatoren sogar deutlich macht, was an der Erbschaft noch nie wahrgenommen worden ist. Er kann durch einen beispiellosen Reflektionsakt sogar etwas ans Licht bringen, was noch niemals sichtbar gewesen ist.
Diese unbeugsame Logik der Reflexion war auch die Praxis von Mandela. Nachdem er 1944 dem Afrikanischen Nationalkongreß beigetreten war, wurde er zu einem der Führer dieser Organisation, die die Nachfolge des Südafrikanischen Nationalkongresses angetreten hatte. Bereits die Struktur des letzteren war ein Spiegelbild des amerikanischen Kongresses und des House of Lords. Es gab insbesondere ein Oberhaus. Das Grundschema wurde also bereits von jener parlamentarischen Demokratie gebildet, die Mandela bewunderte. Auch die Freiheitscharta, die 1955 formuliert wurde, verkündet demokratische Prinzipien, die von der „Bill of Rights“ angeregt wurden. (...)
Die Charta annulliert den Akt der Grundlegung des Gesetzes nicht, jenen notwendigerweise in sich a-legalen Akt, der Südafrika erschafft und der erst im nachhinein legal sein kann, insbesondere dann, wenn er vom Recht der Weltöffentlichkeit ratifiziert wird. Nein, die Charta schreibt ihn um, sie hat zumindest vor, ihn umzuschreiben, indem sie der weißen Minderheit jene Prinzipien zuückspiegelt, von denen sie sich angeblich leiten ließ, während sie sie tatsächlich unaufhörlich verrät. (...)
Jene, die ihn außerhalb des Gesetzes stellten, hatten einfach nicht das Recht dazu: Sie befanden sich schon selbst außerhalb des Gesetzes. (...)
Was die Faszination sichtbar zu machen scheint, was die Aufmerksamkeit Mandelas erregt und festhält, ist nicht nur die parlamentarische Demokratie, deren Prinzip zum Beispiel, aber nicht beispielhaft im Abendland dargeboten wurde, sondern der virtuell bereits vollzogene Übergang der parlamentarischen Demokratie zur revolutionären Demokratie: zur klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum.
PS. Das Postskriptum ist für die Zukunft - die heute äußerst ungewiß erscheint. Denn ich wollte natürlich von der Zukunft Nelson Mandelas sprechen, von der Zukunft dessen, was sich von keinem Spiegel vorhersehen, auffangen, gefangennehmen läßt. Wer ist Nelson Mandela?
Man wird ihn immer bewundern, ihn und seine Bewunderung. Aber man weiß noch nicht, wen in ihm man bewundern soll, jenen, der in der Vergangenheit in seiner Bewunderung gefangen war, oder jenen, der in einer zurückliegenden Zukunft immer frei gewesen ist (der freieste Mann der Welt, und das sollten wir nicht leichthin sagen), weil er die Geduld seiner Bewunderung besaß und sich leidenschaftlich bewußt war, was er bewundern mußte. So sehr, daß er eben noch eine Freiheit unter Auflagen abgelehnt hat. (...)
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