: Zierkuss, Kosacken, Trapetz
■ Wenn die Welt noch in Ordnung ist, fliegen Schönfrauen in starke Männerarme und Trompeter sind verliebt
Die Welt ist noch in Ordnung, wenn an sonnigen Nachmittagen „ganz normale Familien“ aus ihren Mittelklassewagen steigen, um mit ihren Kindern in den Circus zu gehen. Der Duft von Sägemehl liegt in der Luft, der hohe wunderbar blaue Circushimmel wird von gleißendem Scheinwerferlicht erhellt. Nachdem erst einmal alle Geburtstagskinder in der Manege gekürt worden sind, beginnt die „Multi-Akrobatikshow“ im Las Vegas Stil. Circus wie Circus sein muß, schrill und perfekt geschmacklos. Unbeleckt von allen ethnologischen Störthesen ist auch noch das gute alte Indianer-Cowboy-Klischee in voller Schlichtheit erhalten geblieben.
Nachdem heulende Dallas-Cowboys ihre sägemehlstobenden Runden gezogen haben und das Publikum prompt beim ersten Klang der Bonanza Erkennungsmelodie begeistert mitklatscht, beherrschen exotische Glitzerbikinisquaws mit rosa, babyblauem und schrillgrünem Häuptlingsfederschmuck mit ihren Bola-bola-Kugeln rasselnden Kerls die Manege. Die zwölf „internationalen Girls“ auf der Vegas-Showtreppe leiten die Programmpunkte geschmacksvollendet ineinander. Vom Rodeo in Springfield zum Indischen Fest der 1000 Lichter, der Dschungel ruft zur Fiesta Mexicana (Rex Gildo ruft).
Der Sprung vom Indianer-a-Gogo zum Rothaut-Tambomajor ist ein Leichtes, auch Mexiko Girls mit Sombreros können problemlos Schuhplattler. Zur Überleitung zur Elefantennummer verwandeln sich die Damen auch schon mal in eine skurrile Mischung aus Schlumpf und balinesischem Maskentänzer. Das stört aber nicht im geringsten, im Gegenteil.
Nach meinem letzten - höchst peinlichen - Circuserlebnis durfte ich im Circus Krone die Erfahrung machen, daß Clowns auch lustig und rührend sein können. Der verliebte Trompeter David und die wunderschöne Trapezartistin rühren auch die skeptischsten Gemüter. Auch der Pierino macht seinem Namen als zauberhafter Clown alle Ehre, wenn hölzerne Libellen aus seiner herzbemalten Kiste kommen und Nil
pferde, Wollschweine und Gänse liebevoll und behutsam von ihm vorgeführt werden. Keine Sparte fehlt, weder wilde Tiger, schwindelerregende Trapeznummern, bei denen schöne, gertenschlanke Frauen in starke Männerarme fliegen, noch die von leichtgeschürzten Amazonen gerittenen afrikanischen Elefanten. Wikingische Helden im Disco-Outfit turnen todesmutig auf einem rotierenden Doppel-Riesenrad, daß einem schon beim Zusehen schlecht wird. Einzig die dressierte Giraffe ließ etwas auf sich warten, um schließlich gemächlich kauend die Manege zu betreten und das eifrige Pferd eiligst durch seine Beine huschen zu lassen. Alles hat seine Ordnung in dieser Welt: Livrierte Herren weisen ein, die Weißgekleideten verkaufen das Eis und die Dunkelhäutigen stellen das niedere Personal. Die Frauen sind schön, die Männer stark, die Tiere dressiert. Die Chefin macht die Pferdenummer mit dem blauen Nebel, und die Schleuderbrettartisten mit den Kosakenkostümen kommen tatsächlich aus Rumänien. Jeder hat seinen festen Platz wie vor 86 Jahren, und selbst wenn das Programm in mancher Hinsicht vielleicht nicht auf dem allerneuesten Stand ist: Andre Heller mit seinem seichten Luftblasencircus der höheren Ansprüche kann man mir dafür dreimal schenken. Handfestes, bodenständiges Programm, einzig ein richtiges Orchester statt der Konservenmusik hätte dem Ganzen noch den letzten Schliff gegeben. „Ghost Riders in the Sky“ zur Cowboynummer und „Grüezi wohl, Frau Stirnimaa“ zu den Schweizer Clowns wären dann so richtig schmissig gewesen.
Positiv bleibt noch zu vermerken, daß auch die vorderen Ränge gefahrlos betreten werden können. Höchstens einen Staubhusten kann man sich hier zuziehen. Von in die Manege zerrenden Agitatoren bleibt man gänzlich verschont, kein Wassereimer, ja nicht einmal Konfetti-Regen ist zu befürchten. Einfach sitzen und ohne schlechtes Gewissen „konsumierend glotzen“. Das lob ich mir, wo darf man das heute schon noch. Guten Abend.
Kerstin Dreyer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen