: Nachzuweisendes Deutschtum
■ Ahnenpässe, Wehrmachtspässe, SS-Ausweise, Kennkarten: Nazi-Dokumente öffnen ehemals „volksdeutschen“ Polen den Weg in die Bundesrepublik
Die Einwanderungs- und Asylbestimmungen der Bundesrepublik bringen Polen, die sich hier niederlassen wollen, in eine groteske Situation: Als Aussiedler muß man seine Deutschstämmigkeit beweisen. Sprachkenntnisse spielen keine Rolle. Es geht um den Stammbaum. Wie man den ermittelt? Nun: Nur einmal in der deutschen Geschichte wurde einem der Anteil deutschen Blutes bescheinigt.
Als die Nazis 1939 Polen besetzt hatten, führten sie in den Gebieten, wo sowohl Deutsche als auch Polen lebten, sogenannte „Deutsche Volkslisten“ ein. Jeder Pole, der erklärte, er hätte deutsche Vorfahren und fühle sich als Deutscher, konnte in diese Listen aufgenommen werden. Er galt fortan als „Volksdeutscher“, was ihm den Vorteil besserer Lebensmittelkarten gegenüber der restlichen Bevölkerung eintrug. In den Augen der Polen aber hatten solche Menschen Verrat begangen, waren zu „Mitläufern“ geworden.
Wer als „Volksdeutscher“ nach dem Krieg nicht vertrieben wurde, wer blieb, weil er sich vielleicht doch eher als Pole denn als Deutscher empfand, tat alles, seine „Volkslisten„ -Vergangenheit zu verschweigen. Doch junge Leute, die aus dem wirtschaftlich zerrütteten Land ausreisen wollen, schrecken vor dem Geruch der Hakenkreuz-Papiere nicht zurück. Ein „volksdeutsches“ Großelternteil kommt ihnen gerade recht.
Je mehr man sich mit dem Aussiedlerproblem beschäftigt, desto tiefer stecken die Arme in Nazi-Dokumenten: Ahnenpässe, Wehrmachtspässe, SS-Ausweise, Kennkarten. Der Landesnachforschungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes in B erlin hat bei seiner Hilfestellung für Aussiedler alle Hände voll zu tun, Unterlagen von Mitgliedschaften bei nationalsozialistischen Organisationen aufzutreiben. Die Wehrmachtsauskunfsstelle hat ihren Personalstand um 26 Stellen aufstocken müssen, denn sie muß derzeit monatlich 8.000 zusätzliche Anfragen entgegennehmen.
Man kann es den Leuten nicht verübeln: In einer Welt, in der Freizügigkeit als Menschenrecht gilt, muß jeder das Recht haben, im Land seiner Wahl zu leben. Kommt man als Aussiedler ins westliche Deutschland, steht man so finanziell am besten. Denn im Falle einer Anerkennung der „Deutschstämmigkeit“ (95 Prozent der Anträge) wird man für die zurückgelassenen Güter entschädigt und erhält eine Vielzahl von sozialen Leistungen. Kommt man dagegen als Asylbewerber, kann man vielleicht nur mit einer Duldung ohne Arbeitserlaubnis rechnen.
Es sind die deutschen Gesetze, die Polen für eine Nazi -Vergangenheit belohnen, ihnen zu jener Selbstverständlichkeit verhelfen, die anderen Flüchtlingen vorenthalten wird: gleiche Rechte. Wenn aber Polen ihre „deutschstämmigen“ Landsleute fragen: „Bist du Asylbewerber oder Aussiedler?“, dann hören sie meist „Asylbewerber“. Wer will schon zugeben, daß seine Vorfahren sich unter den Nazis zum „Volksdeutschen“ machen ließen. Kein Wunder, daß in Polen über die untrennbare „Blutsbrüderschaft“ größtes Unbehagen besteht.
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