: Zwischenfall in Jalalabad
In zwei Monaten sollen die letzten sowjetischen Truppen Afghanistan verlassen haben / Reisebericht aus einem Land zwischen den Zeiten: Die afghanische Armee vertraut auf die eigene Kraft und die abschreckende Wirkung der von den Mudjahedin begangenen Massaker / Journalistenbus von Widerständlern beschossen ■ Aus Kabul Jochen Hippler
Mein Besuch in Afghanistan beginnt schon alles andere als friedlich: Pünktlich am Tag der Ankunft beschießen die Mudjahedin eine Passagiermaschine beim Start in Kabul mit 25 Boden-Boden-Raketen. Die Schüsse gehen daneben, aber zehn sowjetische Soldaten auf dem Flughafen werden getötet. Elf weitere verletzt. Ich bin froh, daß meiner Maschine beim Landeanflug nichts passiert ist. Im Hotel angekommen und kaum die Koffer ausgepackt, schlägt eine weitere Rakete nur einige hundert Meter entfernt in einem Wohnhaus ein.
Am nächsten Tag sieht alles ganz anders aus. Kabul wirkt friedlich. Tief verschleierte Frauen neben westlich gekleideten und geschminkten, lautes und geschäftiges Treiben überall. Das Warenangebot im Basar läßt an Vielfalt nichts zu wünschen übrig: vom Fernsehgrät bis zu Ziegen- und Schafsköpfen, die abgetrennt und sortiert auf einer offenen Karre liegen, von unterschiedlichen Früchten, selbstgebrauten Rheumamitteln bis zu Glas und Metallkanistern, künstlichen Blumen, Zigaretten, einzelnen Schuhen - alles erdenkliche wird zum Kauf angeboten. Brot allerdings, so ist später zu erfahren, ist sehr knapp, Benzin kaum zu erhalten. Der Basar ist ständig eingehüllt in eine Wolke feinen, hellen Staubes. Ein Mann in traditioneller, langer Tracht mit großem Turban versucht durch ständiges Klingeln auf seinem alten Fahrrad durch die Menge zu fahren, über seinem Lenker hängen zwei lebendige Hühner, die an den Füßen zusammengebunden sind. An einer anderen Stelle hat ein sowjetischer Soldat in aller Ruhe seine Staffelei aufgebaut und malt.
Ich bin auf dem Weg zu Schir Sad, dem stellvertretenden Generaldirektor der Kabuler Sicherheitspolizei. Diese gehört zu den Sarandoi, eine dem Innenministerium unterstellte Polizei- und Geheimdiensttruppe. Der Hof wird von einem Schützenpanzer leichter Bauart und einigen Sarandoi mit aufgepflanztem Bajonett gesichert. Sad strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus, schwankt zwischen Freundlichkeit und Selbstsicherheit und gelangweiltem Gehabe. Im Hintergrund zwei übergroße Stadtkarten von Kabul mit unterschiedlichen Markierungen und der Kennzeichnung der jeweiligen Militärbezirke, an Hand derer er später die Grundzüge der Organistaionsstruktur seines Dienstes erklären wird. Er ist der Auffassung, daß die Gewährleistung von Ruhe und Stabilität nur zum kleineren Teil eine militärische und polizeiliche Aufgabe sei, sondern vor allem politische und wirtschaftliche Maßnahmen voraussetze, für die allerdings nicht er, sondern die politische Führung verantwortlich sei. Der zivile Aspekt, etwa Unzufriedenheit in der Bevölkerung wegen der Versorgungslage, seien Sicherheitsprobleme, denen rein militärisch nicht beizukommen sei. Auf jeden Fall würden die Sarandoi von den Gewerkschaften, anderen Berufsverbänden und Massenorganisationen über entsprechende Entwicklungen unterrichtet. Der Polizeioffizier Sad kritisiert offen den „Übereifer“ und repressive Maßnahmen der Konkurrenz, dem berüchtigten Geheimdienst Khad, führt dies aber auf Nebensächlichkeiten zurück: die Unerfahrenheit zu jugendlicher Khad-Mitlieder und persönliche Rivialitäten und Reiberein. Hinter den Worten wird deutlich, daß der harte, repressive Kurs des Khad von ihm für schädlich gehalten wird: er bringe die Leute gegen die Regierung auf. Ständig würden sich Betroffene oder Angehörige über Mißhandlungen des Khad bei den Sarandoi beschweren, man könne aber oft nicht helfen.
Wir verabschieden uns, im Warteraum sitzen acht bis zehn Personen beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters, zwei völlig verschleierte Frauen. Es sieht aus wie im Warteraum einer Sprechstunde.
Szenenwechsel. Wir fahren zu einem afghanischen Fernmelde und Kommunikationsregiment in Kabul. Bei einem Gespräch im Büro des Regimentskommandanten, an dem außer ihm noch zwei weitere afghanische Offiziere, zwei sowjetische Militärberater und ein ebenfalls sojwetischer Dolmetscher teilnehmen, kommt der Kommandant kaum zu Wort. Mit großer Selbstverständlichkeit übernehmen die sowjetischen Berater die Gesprächsführung. Auf dieser Militärbasis mit rund 1.000 Soldaten gibt es außer den im Raum anwesenden keine weiteren sowjetischen Berater. Trotzdem machen sie den Eindruck, die eigentlichen Chefs des Stützpunkts zu sein, obwohl sie mehrfach betonen, nur unterstützend und auf Bitten der Afghanen tätig zu sein. Auch würden sie und ihre sowjetischen Kollegen wahrscheinlich auch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan weiterhin im Land bleiben. Dies geschehe in Übereinstimmung mit den Genfer Abkommen und nur dann, „wenn die afghanische Regierung dies wünscht“.
Dann beginnt unsere Besichtigung. Wir sehen die Dusch- und Waschräume der Soldaten, die Sauna und den winzigen Swimming -Pool der Offiziere. Man zeigt uns die Kantine und einen kneipenartigen Aufenthaltsraum, sowie die Unterkünfte. Alles macht einen ziemlich bescheidenen aber funktionalen Eindruck. Wir werden in eine kleine Moschee geführt. Zu meiner Überraschung betreten der Kommandeur und die sowjetischen Berater die Moschee, ohne ihre Schuhe auszuziehen. Die beiden Geistlichen versuchen, davon keine Notiz zu nehmen, machen aber kein übertrieben glückliches Gesicht.
Ausflug als Zielscheibe
Am nächsten Tag werden einige Journalisten eingeladen, Jalalabad und das Grenzdorf Torkham zu besuchen. Jalalabad liegt westlich vo Kabul, etwa 70 Kilometer vor der Grenze zu Pakistan. Und von dort aus sind es nur noch etwa 45 Kilometer nach Peshawar, dem Hauptquartier der „Siebener -Allianz“ der Mudjahedin in Pakistan. Die Region und die Straße von Jalalabad nach Torkham sind seit langem wegen ihrer strategischen Bedeutung umkämpft, die Mudjahedin stark, ihre Nachschublieferungen besonders problemlos.
Anfang November hatte eine größere Gruppe von Mudjahedin die Straße zur Grenze unterbrochen und den Grenzort Torkham eingenommen. Dabei waren zahlreiche Soldaten der Regierung gefangengenommen worden oder hatten sich ergeben. Nach Angaben eines wichtigen Mudjahedinführers hat die siegreiche Truppe der Mudjahedinpartei des Yunis Khales in Torkam 70 bis 75 ihrer Gefangenen kaltblütig umgebracht. Eine hochrangige Quelle aus pakistanischen Militärkreisen bezifferte mir gegenüber die Zahl der Massakrierten mit etwa 150. Daraufhin sei die afghanische Armee mit frischen Truppen und etwa 13 Panzern schnell auf Torkham vorgestoßen und habe den Ort zurückerobert. Die Mudjahedin seien nach Pakistan geflohen. Die Bevölkerung habe sie nicht unterstützt, da sie vom Massaker abgestoßen gewesen sei. Auch die restlichen Widerstandsnester der Mudjahedin wurden bald zerschlagen. Die Regierung war sehr stolz, einen solchen Sieg errungen zu haben, vor allem, weil dies ganz ohne sojwetische Hilfe möglich war. Die Sowjetunion hatte das Gebiet schon im Sommer geräumt.
Am Flugfhafen von Kabul steht eine zweimotorige Anatonow 26 für uns bereit, mit dem üblichen Tarnanstrich versehen. Im vorderen Teil des Flugzeugs gibt es sechs normale Sitze, der Rest ist Transportfläche, durch eine Tür abgetrennt. Dort gibt es auf beiden Seiten Holzpritschen. Jeder Passagier bekommt einen Fallschirm angelegt und wird im Gebrauch unterrichtet. Selbst bei einem Treffer einer Singer habe man noch eine Chance: nicht das ganze Flugzeug würde explodieren, sondern nur der Motor getroffen. Wir hätten noch 30 Sekunden Zeit zum Aussteigen. Wir fliegen ganz ohne Licht, um den amerikanischen Boden-Luft-Raketen der Mudjahedin vom Typ Stinger kein Ziel zu bieten. Das Flugzeug steigt mit größtmöglicher Geschwindigkeit, es muß schnell aus der Reichweite der Raketen hinaus. Dazu bleibt es über dem Talkessel von Kabul und schraubt sich in engen Spiralen in die Höhe. Ich kann die Mitreisenden wegen der Dunkelheit nicht mehr erkennen, habe sie mir aber vor dem Start genauer ansehen können: den alten, französischen Korrespondenten von 'Humatite‘, der in gewissen Abständen zwanghaft Heiterkeit verbreiten muß, der kleine Inder von 'afp‘, der neben mir sitzt, seine Angst mit einer Flasche Wodka bekämpft und später schwer verwundet werden wird, die vier japanischen Radio- und Fernsehreporter, von denen zwei in Jalalabad bleiben werden. Nach 35 Minuten landen wir, ohne Zwischenfall, nachdem wir uns wieder in engen Spiralen heruntergeschraubt haben.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg nach Torkham. 20 Kilometer vor der Stadt werden Waffen, Munition und einige Fahrzeuge vorgeführt, die die Mudjahedin bei ihrem Rückzug zurückgelassen hatte. Mörser, Mörsergranaten, Maschinengewehre, Munitionskisten, Sturmgewehre und anderes Gerät liegt hier sauber aufgereiht im Sand. Ein paar Dutzend Mitglieder der Miliz stehen vor den erbeuteten Jeeps und Bussen, von denen einer noch die Aufschrift „Reisen Müller“ trägt - keine Seltenheit in Afghanistan. Der afghanische Generalleutnant Abdul Gafour hält uns eine vermutlich gutgemeinte, sehr temperamentvolle und wenig ergiebige Rede. Er gestikuliert leidenschaftlich, er spricht sehr laut, schreit fast und hat die unangenehme Eigenschaft, bei seinem Redeschwall immer näher an einzelne seiner Zuhörer heranzutreten, bis er der japanischen Journalistin aus knapp 30 Zentimetern Entfernung direkt ins Gesicht brüllt. Auf diese Weise erfahren wir, daß die Regierungstruppen Anfang November einen großen Sieg errungen haben, hören viel von Heldenmut, Tapferkeit und anderen Sekundärtugenden.
Wir steigen in gepanzerte Mannschaftswagen um, oder besser gesagt: wir sitzen oben auf ihnen. Gafour hat versichert, daß der Weg sicher sei, und ich erinnere mich, daß bei verminten Straßen der Platz auf den Panzerwagen wesentlich sicherer ist als innerhalb. Der Blick ist entsprechend gut, wir unterhalten uns angeregt, es macht sich fast so etwas wie Ausflugsstimmung breit. Der sowjetische Kollege neben mir, der schon mehrere Jahre in Afghanistan arbeitet, hat keine sonderlich hohe Meinung von der afghanischen Regierung und unterstreicht, daß sie kaum eine soziale Basis im Land habe.
Nach einer Strecke durch verstepptes, verödetes, fast wüstenartiges Gebiet wird die Landschaft freundlicher. Es gibt wieder Büsche und Bäume, wir kommen durch kleine Dörfer. Maisfelder am Straßenrand, hoch bepackte Esel tragen riesige Bündel Zuckerrohr. Leute sitzen am Straßenrand und reden oder liegen im Schatten. Gelegentlich kommen uns vollgestopfte Busse oder Lastwagen entgegen. Die Bevölkerung ist zum Teil gleichgültig. Je weiter wir uns von Jalalabad entfernen, desto größer scheint der Anteil derer zu werden, die verschlossen bis offen ablehnend reagieren.
Die Vegetation hört allmählich wieder auf, wir fahren zwischen kahlen, bräunlichen Bergen hindurch, die an eine Mondlandschaft erinnern. Noch sind es schätzungsweise 15-20 km bis Torkham, bis zur Grenze. Plötzlich höre ich Motorengeräusche und sehe, wie drei Kampfhubschrauber mit hoher Geschwindigkeit dicht über uns hinwegfliegen. Sie bleiben in Bodennähe und kreisen hektisch hin und her. Kurz darauf drei sofort aufeinanderfolgende Explosionen, ich drehe mich um und sehe etwa 400-500 Meter hinter uns drei schwarze Rauchwolken am Boden. Plötzlich ein ungeheurer Knall, eine Explosion ganz in der Nähe, rechts hinter mir. Steine und Metallsplitter fliegen uns um die Ohren, Ich spüre, oder glaube, am Kopf getroffen zu sein. Er wird herumgerissen, fühlt sich auf der rechten Seite taub an. Der freundliche Russe neben mir, der sich vorher so bemüht hatte, die Unterhaltung auf deutsch zu führen, reicht mir sein fast sauberes Taschentuch, um das Blut zu stillen.
Willkommen in Torkham
Nach einer weiteren Viertelstunde und der Angst, der Beschuß könne weitergehen, möglichst flach an den Wagen gekauert, erreichen wir endlich das fast verlassene und teilweise zerstörte Torkham. Hier in Torkham ist nur die notdürftigste Versorgung vorhanden. Ein afghanischer Arzt behandelt uns aus einem verrosteten Kleinbus heraus, desinfiziert, legt Verbände an. Die schwereren Fälle werden per Hubschrauber nach Jalalabad ins Krankenhaus Nr.1 ausgeflogen.
Unser Aufenthalt in Torkham trägt leicht absurde Züge. Nachdem die leichter Verletzten ambulant behandelt worden sind, beginnt ein „Programm“. Generalleutnant Gafour hält eine erneute, feurige Rede, faßt sich diesmal aber etwas kürzer. Als Kollegen mit Fragen beginnen, dreht er sich um und geht. Im Hintergrund haben derweil eine Reihe afghanischer Soldaten Aufstellung genommen, links eine militärische Musikkapelle, rechts Soldaten mit Stahlhelm. Wir werden Zeugen einer Ordensverleihung. In gewissen Abständen bricht die Kapelle in pathetische und etwas unbeholfene Musik aus. Dann schreitet der Generalleutnant die letzten 50 Meter bis zur Grenze, zu dem großen Tor, das zwar offensteht, aber heute von niemanden benutzt wird. Er hält - ich hatte es befürchtet - eine seiner unvermeidlichen Reden, in der er diesmal den „pakistanischen Brüdern“ in großer Geste die Hände entgegenstreckt. Im gleichen Atemzug verlangt er die Einstellung der Unterstützung Pakistans für die Mudjaheddin. Auf der Rückfahrt fahren wir im Inneren der gepanzerten Mannschaftswagen, zumindest für die erste Stunde. Als wir weit genug von der Grenze entfernt sind, steigen die meisten wieder auf die Fahrzeuge. Nach einer weiteren halben Stunde kommen wir zu einer Siedlung. Mehrere Wohnhäuser sind knapp zwei Wochen zuvor von vorrückenden Mudjahedin geplündert und niedergebrannt worden, die ehemaligen Bewohner sitzen davor in den Resten und Trümmern ihrer Habe. Verkohlte Bettgestelle und Küchengeschirr ist das einzige, was übrig ist. Eine alte Frau beschreibt die Plünderungen. Ein alter und traditionell gekleideter Mann berichtet ebenfalls. Insbesondere der Diebstahl zweier Radiorecorder geht ihm zu Herzen: der Stolz seiner Familie und seiner Kinder. Angehörige der Miliz stehen mit ihren Waffen herum, in Einzelgesprächen wird deutlich, daß deren Loyalität zumindest zweifelhaft ist. Ein Soldat gibt zu, beim Angriff sofort weggelaufen zu sein.
Wir treffen nach Einbruch der Dunkelheit am Flughafen von Jalalabad ein. Ziemlich bald kommt eine Maschine aus Kabul, um uns abzuholen. Noch während der Landung wird sie aus den Bergen beschossen, bleibt aber unversehrt. Wir starten unverzüglich, ziehen enge Spiralen über der Stadts, um schnell an Höhe zu gewinnen. Als wir schon die Flughöhe erreicht haben, kann ich durchs Fenster erkennen, daß vom Boden zwei Raketen auf uns abgeschossen werden. Sie verfehlen ihr Ziel mit großem Abstand. Keiner spricht während des Fluges ein Wort. Die Handflächen werden so schnell naß, daß abwischen kaum noch hilft.
Unser Unbehagen wird nicht eben vermindert, als wir später erfahren, daß zwei Tage nach unserer Rückkehr nur wenig südwestlich von Jalalabad eine Antonow 26 abgeschossen wurde. Die Maschine hatte technische Probleme. Sie war überwiegend mit pakistanischen Studentinnen und Studenten besetzt, die in Jalalabad an einer medizinischen Fachschule ausgebildet wurden. Der Pilot wollte knapp hinter der pakistanischen Grenze auf einem Rollfeld notlanden und schaltete die Beleuchtung ein. Am 18.November um 20:25 wurde das Flugzeug daraufhin von der pakistanischen Armee abgeschossen. 37 Menschen fanden den Tod, davon vier Besatzungsmitglieder. Ein pakistanischer Offizier erkannte eine Studentin aus seinem Dorf, die Leichen wurden eilig auf der afghanischen Seite der Grenze verscharrt, bis Eltern die Rückgabe der Leichen ihrer Kinder verlangten. Die pakistanische Armee ernannte das Flugzeug posthum zum „Spionageflugzeug“, dessen Abschuß legitim gewesen sei. Diese Vorgänge wurden aus gut unterrichteten pakistanischen Quellen bestätigt. Weder in Afghanistan noch in Pakistan berichteten die Medien mehr als den „Abschuß einer Militärmaschine mit 37 Personen“.
Wir steigen in gepanzerte Mannschaftswagen um, oder besser gesagt: wir sitzen oben auf ihnen. Gafour hat versichert, daß der Weg sicher sei, und ich erinnere mich, daß bei verminten Straßen der Platz auf den Panzerwagen wesentlich sicherer ist als innerhalb. Der Blick ist entsprechend gut, wir unterhalten uns angeregt, es macht sich fast so etwas wie Ausflugsstimmung breit. Der sowjetische Kollege neben mir, der schon mehrere Jahre in Afghanistan arbeitet, hat keine sonderlich hohe Meinung von der afghanischen Regierung und unterstreicht, daß sie kaum eine soziale Basis im Land habe.
Nach einer Strecke durch verstepptes, verödetes, fast wüstenartiges Gebiet wird die Landschaft freundlicher. Es gibt wieder Büsche und Bäume, wir kommen durch kleine Dörfer. Maisfelder am Straßenrand, hoch bepackte Esel tragen riesige Bündel Zuckerrohr. Leute sitzen am Straßenrand und reden oder liegen im Schatten. Gelegentlich kommen uns vollgestopfte Busse oder Lastwagen entgegen. Die Bevölkerung ist zum Teil gleichgültig. Je weiter wir uns von Jalalabad entfernen, desto größer scheint der Anteil derer zu werden, die verschlossen bis offen ablehnend reagieren.
Die Vegetation hört allmählich wieder auf, wir fahren zwischen kahlen, bräunlichen Bergen hindurch, die an eine Mondlandschaft erinnern. Noch sind es schätzungsweise 15-20 km bis Torkham, bis zur Grenze. Plötzlich höre ich Motorengeräusche und sehe, wie drei Kampfhubschrauber mit hoher Geschwindigkeit dicht über uns hinwegfliegen. Sie bleiben in Bodennähe und kreisen hektisch hin und her. Kurz darauf drei sofort aufeinanderfolgende Explosionen, ich drehe mich um und sehe etwa 400-500 Meter hinter uns drei schwarze Rauchwolken am Boden. Plötzlich ein ungeheurer Knall, eine Explosion ganz in der Nähe, rechts hinter mir. Steine und Metallsplitter fliegen uns um die Ohren, Ich spüre, oder glaube, am Kopf getroffen zu sein. Er wird herumgerissen, fühlt sich auf der rechten Seite taub an. Der freundliche Russe neben mir, der sich vorher so bemüht hatte, die Unterhaltung auf deutsch zu führen, reicht mir sein fast sauberes Taschentuch, um das Blut zu stillen.
Willkommen in Torkham
Nach einer weiteren Viertelstunde und der Angst, der Beschuß könne weitergehen, möglichst flach an den Wagen gekauert, erreichen wir endlich das fast verlassene und teilweise zerstörte Torkham. Hier in Torkham ist nur die notdürftigste Versorgung vorhanden. Ein afghanischer Arzt behandelt uns aus einem verrosteten Kleinbus heraus, desinfiziert, legt Verbände an. Die schwereren Fälle werden per Hubschrauber nach Jalalabad ins Krankenhaus Nr.1 ausgeflogen.
Unser Aufenthalt in Torkham trägt leicht absurde Züge. Nachdem die leichter Verletzten ambulant behandelt worden sind, beginnt ein „Programm“. Generalleutnant Gafour hält eine erneute, feurige Rede, faßt sich diesmal aber etwas kürzer. Als Kollegen mit Fragen beginnen, dreht er sich um und geht. Im Hintergrund haben derweil eine Reihe afghanischer Soldaten Aufstellung genommen, links eine militärische Musikkapelle, rechts Soldaten mit Stahlhelm. Wir werden Zeugen einer Ordensverleihung. In gewissen Abständen bricht die Kapelle in pathetische und etwas unbeholfene Musik aus. Dann schreitet der Generalleutnant die letzten 50 Meter bis zur Grenze, zu dem großen Tor, das zwar offensteht, aber heute von niemanden benutzt wird. Er hält - ich hatte es befürchtet - eine seiner unvermeidlichen Reden, in der er diesmal den „pakistanischen Brüdern“ in großer Geste die Hände entgegenstreckt. Im gleichen Atemzug verlangt er die Einstellung der Unterstützung Pakistans für die Mudjaheddin. Auf der Rückfahrt fahren wir im Inneren der gepanzerten Mannschaftswagen, zumindest für die erste Stunde. Als wir weit genug von der Grenze entfernt sind, steigen die meisten wieder auf die Fahrzeuge. Nach einer weiteren halben Stunde kommen wir zu einer Siedlung. Mehrere Wohnhäuser sind knapp zwei Wochen zuvor von vorrückenden Mudjahedin geplündert und niedergebrannt worden, die ehemaligen Bewohner sitzen davor in den Resten und Trümmern ihrer Habe. Verkohlte Bettgestelle und Küchengeschirr ist das einzige, was übrig ist. Eine alte Frau beschreibt die Plünderungen. Ein alter und traditionell gekleideter Mann berichtet ebenfalls. Insbesondere der Diebstahl zweier Radiorecorder geht ihm zu Herzen: der Stolz seiner Familie und seiner Kinder. Angehörige der Miliz stehen mit ihren Waffen herum, in Einzelgesprächen wird deutlich, daß deren Loyalität zumindest zweifelhaft ist. Ein Soldat gibt zu, beim Angriff sofort weggelaufen zu sein.
Wir treffen nach Einbruch der Dunkelheit am Flughafen von Jalalabad ein. Ziemlich bald kommt eine Maschine aus Kabul, um uns abzuholen. Noch während der Landung wird sie aus den Bergen beschossen, bleibt aber unversehrt. Wir starten unverzüglich, ziehen enge Spiralen über der Stadts, um schnell an Höhe zu gewinnen. Als wir schon die Flughöhe erreicht haben, kann ich durchs Fenster erkennen, daß vom Boden zwei Raketen auf uns abgeschossen werden. Sie verfehlen ihr Ziel mit großem Abstand. Keiner spricht während des Fluges ein Wort. Die Handflächen werden so schnell naß, daß abwischen kaum noch hilft.
Unser Unbehagen wird nicht eben vermindert, als wir später erfahren, daß zwei Tage nach unserer Rückkehr nur wenig südwestlich von Jalalabad eine Antonow 26 abgeschossen wurde. Die Maschine hatte technische Probleme. Sie war überwiegend mit pakistanischen Studentinnen und Studenten besetzt, die in Jalalabad an einer medizinischen Fachschule ausgebildet wurden. Der Pilot wollte knapp hinter der pakistanischen Grenze auf einem Rollfeld notlanden und schaltete die Beleuchtung ein. Am 18.November um 20:25 wurde das Flugzeug daraufhin von der pakistanischen Armee abgeschossen. 37 Menschen fanden den Tod, davon vier Besatzungsmitglieder. Ein pakistanischer Offizier erkannte eine Studentin aus seinem Dorf, die Leichen wurden eilig auf der afghanischen Seite der Grenze verscharrt, bis Eltern die Rückgabe der Leichen ihrer Kinder verlangten. Die pakistanische Armee ernannte das Flugzeug posthum zum „Spionageflugzeug“, dessen Abschuß legitim gewesen sei. Diese Vorgänge wurden aus gut unterrichteten pakistanischen Quellen bestätigt. Weder in Afghanistan noch in Pakistan berichteten die Medien mehr als den „Abschuß einer Militärmaschine mit 37 Personen“.
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