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Eyejacking

■ Betrachtungen über die Medialität der Realität

Wer als Organisator, vielleicht Direktor oder Intendant bei den audiovisuellen Medien etwas auf sich hält, muß ihr Marketing beherrschen. Wer engagiert ist, bietet ein ereignisorientiertes Fernsehprogramm an, läßt entsprechend produzieren und akquirieren. Man hat ein Gespür für Ozonlöcher, ein Auge für den visagierten Rockstar, Platz für ein Robbenbaby in der Talkshow, ein Ohr für den Freiheitsschrei der Schwarzen, eine Nase für das Gewürm im Fisch und die Sauerei im Kalb. Oder man plaziert bündelweise Lust- und Verwechslungs- oder Trauerspiele in TV-Kanälen anläßlich/eingedenk von Kriegsausbrüchen, Waffenstillständen, Städtegründungen, Kulturabkommen, Hochzeiten oder Begräbnissen von menschheitlicher Relevanz. Irgendwie bringt man den Moser nach Mosambik, die Monroe in die Mongolei. Es kommt nur darauf an, einen Markt zu finden. Wer nicht weiß, wie man effektiv 30 Italowestern nach Somalia, Holiday-on-Ice-Revuen nach Grönland oder die ganze Schulmädchen-, Hausfrauen- und Sekretärinnen-Reports nach Laos verkauft, braucht nicht auf eine Stelle als Medienberater bei TV 5 (ob das sich nun italienisch, französisch oder sonstwie ausspricht) zu spekulieren.

Grenzgewässer werden nicht ohne vorherige Benachrichtigung eines zufälligen Amateurfilmers durchschwommen. Klopfzeichen bei Grubenunglücken sollten erst nach Eintreffen des Tonmanns abgegeben werden. Das Fluchtauto stellt die Produktionsgesellschaft. Flugzeugentführungen oder Banküberfälle mit Geiselnahme stehen auf dem Programm. Das Programm macht die Ereignisse. Ein versierter, schlechthin realistischer Medienberater richtet das TV-Programm nicht nach dem, was in der Wirklichkeit passiert, sondern richtet die Wirklichkeit nach dem Programm. Das ist die Wirklichkeit, die in Wirklichkeit passiert.

Ohne Fernsehen keine Sportkonkurrenzen, aber auch keine Attentate oder Flugzeugabstürze. Die Frage nach Urheberrechten, Exklusivverträgen, Honoraren und Prämien dürfte dabei früher oder später unumgänglich sein. Im Fall von Kleinflieger-Spritztouren kommen die Relationen zwischen Realität und Medialität ziemlich unbefangen zum Vorschein; auch bei einem alpinen Abfahrtslauf, der (da braucht man gar nicht viel Wind zu machen) ohne seine Fernseh-Übertragung ganz einfach nicht stattfindet.

Weniger offensichtlich, vermutlich auch weniger einsichtig, sind die Verhältnisse und Verhängnisse im Kriegsfall. In und durch Vietnam entwickelte sich eine neue Qualität, Intensität und Extensität des Ineinanderdringens von Prozessen der Wirklichkeit, Realität und ihrer audiovisuellen Realisation, von Ereignissen und News, Geschichte und Story. Da „draußen“ war es „wie im Film“, ging man in den Kampf „ins Kino“. Das Wort von der Inszenierung eines Krieges hat nichts Gleichnishaftes mehr. Medialität und Realität schießen zusammen. Das hat kommerzielle Folgen, kann auch kulturelle Auswirkungen haben. Inzwischen sind über diesen Krieg, seine Aura, sein Trauma so viele Filme produziert worden, daß es schon nahezu wieder eines programmorientierten Ereignisses bedürfte, eines kriegerischen Ereignisses für das Kriegsfilmprogramm: gegebenenfalls Nicaragua, El Salvador. Die Kamera immer feste drauf. Alles Objekte für das Objektiv.

Vivesektion. Wie kann der das aushalten, verantworten, der das okulare Skalpell führt, einschneidend herausschneidet, Schnitt für Schnitt? Man erinnert sich an Bilder, die um die Welt gingen: die Selbstverbrennung, die Kopfschuß-Tötung eines verdächtigen Vietnamesen durch den Polizeichef, das Zerschmettern der Hände Gefangener, das Gesicht der Flugzeug -Passagierin, die mit ausgetreckter Hand in den Eisfluten ertrinkt. Unerreichbar, unabwendbar, unrettbar für den Menschen an der Kamera? Das Unfaßbare nur noch faßbar durch die Kamera. Das an die Kamera übereignete Auge ist indifferent, gleichgültig im Verhältnis zum Organspender und gleichgültig gegenüber seinem vis-a-vis. Egal ob der Kamermann kaltblütig oder warmherzig ist, das Medium bleibt cool.

Es gab Zeiten, da hielt man den Fernsehzuschauer für nicht genügend trainiert, um solche Bilder auszuhalten: in Generationen oder Provinzen televisueller Monokultur. Die Filmaufnahmen von der Kopfschuß-Tötung aus Vietnam liefen damals nicht in den Nachrichtensendungen des bundesdeutschen Fernsehens. Daseinsfürsorge inmitten der Familie, gerade beim Abendessen, wenn die Kinder dabei sind, vor dem Zubettgehen, als ob es nicht so schon genug Mord und Totschlag gäbe. Wer ständig zu hören bekommt, daß Bilder abstumpfen, der schärft seinen Blick. Der Blick ist inzwischen schneller geworden, weiter gekommen. Es läßt sich kaum noch etwas vor ihm verbergen, auch das Vorenthalten nicht. Selbst wo Menschen zum Verschwinden gebracht werden, wie in Argentinien oder Chile, kommen sie als Bilder zum Vorschein, sind sie präsent in den Fotos, die ihre Angehörigen (den Kameras) der Welt entgegenhalten.

Wenn Blicke allenfalls sprichwörtlich töten können, Kamerablicke können es abbildlich. Aber der Medienblick, ein Moment des Tötens, der das Fluidum eines Menschen vernichtet, bewahrt es auch, ist zugleich ein Akt des Überlebens. Gelegentliches Indiz: die Suche nach dem Fotoalbum, noch lebendige Freunde, Verwandte, Erlebnisse, wiedergefundene Zeit. Geschäftliches Indiz: Die Video -Memoiren GmbH greift für die künftigen Hinterbliebenen in eine Marktlücke ein: Gefilmt zu werden, ist eine der letzten Chancen, am Leben zu bleiben. Video macht unsterblich. Alltägliches Indiz: der Griff zum Video, Attraktion des Schreckens, Animation des Todes, Faszination der Gewalt, Sensation der Zerstörung, Grazie des Grauens. Jeder kann nach Belieben aufnehmnen, löschen, überspielen: Mit dem Medium überspielt man das Reale. Realität scheint nur noch als Überspieltes zu existieren.

Mit dem Videorecorder nimmt man sich etwas zu Herzen: und wenn es nur das dem Gefangenen herausgeschnitte ist, das zu verzehren Lebenskraft schenkt. Es gibt das Beispiel eines Videos, in dem sich zwei Jungen, bevor sie ihre Lehrerin mit einer Kettensäge aufreißen, ein Paar Videos und Bouletten reinziehen. Degoutant, nicht wahr, aber wahr. Die audiovisuelle Vermittlung, Wahrnehmung und Darstellung der Realität ist nach und nach so intensiv und extensiv geworden, daß letztendlich alles auf deren mediale Herstellung hinausläuft.

Auch der Aspekt des Deja-vu-Bildes hat sich geändert: Man kann sich beim Anblick eines Dings oder eines Geschehens erinnern, das oder so etwas schon einmal gesehen zu haben; nunmehr bedeutet das, es schon einmal als Bild gesehen zu haben, zumeist im Fernsehen. Und das Bild, das man sich macht, ist auch kaum mehr das Abbilden eines Gegenstands, sondern ein Montieren von Sehstoff. Die Außenwelt ist (wie) ein ungeheures, unentwegt aufs neue selbst entworfenes Environment von Bildern und Tönen. Etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, darauf gibt niemand etwas. Erst das Medium stattet einen Vorgang mit Wirklichkeit aus. Aber letztendlich nicht schlechthin wegen der vermeintlichen, der eingeschworenen Autorität und Authentizität einer Medieninstanz, sondern weil sich die Sehkraft dahingehend entwickelt, allein das Imaginäre für real zu halten. Die kaleidoskopische Panvision der Videoclips, montiert, demontiert, remontiert, ist die Entsprechung für eine Weltsicht oder auch Lebensanschauung. „Pump up the volume“ oder „Will you remember“: Sonnenuntergänge, Mondlandungen, Präsidentenmorde, Lidschläge, Bombenabwürfe, Bettgeflüster, Demonstrantenjagd, Händchenhalten, Autounfälle: Geplündert und wiederverwertet wird Privates und Publizistisches, die Weltlage und die Zweierbeziehung - aber allemal als Sekundärmaterial, audiovisuelle Jetons, Funde, Zitate, Redewendungen in Bild und Ton.

Die Inflation an medialem Material ist zwar ökonomischen Kräften geschuldet, erschöpft sich aber weder darin noch in der ökologischen Vernunft eines audiovisuellen Recycling. Vielmehr äußerst sich damit eine Entwicklung, mit der man nicht mehr mitzukommen droht, ein Fortschritt, der einem entgeht. Was ist schon ein Tourist ohne Kamera, was ein Tag ohne Dia? Von TV-Kommentatoren bekam man einst zu hören, daß die Demonstranten wohl oder übel auf die Straße gehen mußten, weil sie keinen Zugang zum Fernsehen hatten. Solche Einschätzung enthält mehr als Sendungsbewußtsein. In der Tat, was ist schon ein Demonstrant ohne seine Nahaufnahme in der Regionalschau? Sie identifiziert ihn zwar politisch, aber auch er sich mit ihr persönlich. Streetfighters agieren als ihre eigenen Stunts. Das Subjekt tritt in Erscheinung, inszeniert Realität, bespielt Überspieltes neu und anders. Eine Kamera ist dazu da, draufgehalten zu werden. Und auf Passanten oder Passagiere, Geiseln, Menschen, die unbeteiligt sind, unschuldig? Bilder sind respektlos, unverschämt, direkt. Wer ihnen mit einer moralischen Rüge Anstand beibringen will, verkennt, daß in ihrer Anarchie Emanzipatorisches steckt, in ihrem Chaos Progressives.

Pervers mögen die Praktiken der Kollaboration von Tätern und Kamera-Augenzeugen und Monitor-Augenzeugen sein. Aber sie sind die Perversion des Subversiven, womöglich Emanzipatorischen, das in den modernen audiovisuellen Medien steckt. Wem dies zu suspekt ist, finde sich damit ab, aber nicht die Medien, weder ihre Macher noch ihre Nutzer. Da ist schnell von Humanität die Rede, wo es mit der Menschlichkeit nicht weit her ist. Wo es nichts zu begreifen geben soll, gibt man sich ergriffen. Worte der Güte statt Taten der Bilder. Gewiß, Bilder lassen sich nicht zähmen - daß man sie für längst stubenrein und an das Geräusch des Büchsenöffners gewöhnt hält, gehört zur Fernsehgeschichte, aber nicht schlechthin zum Medium.

Bilder sind unzähmbar, aber nicht unbändig. Sie sind gewaltig, überwältigend. Doch was ist schon Gewaltanwendung der Bilder gegenüber der Vergewaltigung durch die Bilder... der Talkshows, der talking heads der Nachrichtenkommentare, der Surprise-Party der Familienrührung, der Tätersuche für Fernbedienungstäter, der Allmächtigkeit der Konferenzschaltungen, einer Welt, die päßlich von links oben nach rechts unten geht und zum Mittelpunkt den Menschen hat. Ab und an albern, im Falle eines Falles indes gravitätisch. Aber die Bilder kommen vor der Moral. Und da gehören sie auch hin. Schaulust ist nicht der Gegensatz zu Aufklärung. Neugier nicht die Ursache für Schadenfreude. Nicht das mediale Überlebenserlebnis fordert die realen Todesopfer. Auch in der Informationsgesellschaft findet die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht einfach durch die Kamera statt. Selbst wenn es mitunter kriminelle Abwege gibt, die Bilder wieder in seine Gewalt zu bekommen, dahin führt der Weg. Er führt über Spielplätze, durch Gegenden, in denen Zeit und Raum für mediale Kreativität, Produktivität und Solidarität ist, in Bereiche, in denen sich das Sehen (aufs neue) entdecken läßt, das Sehen plötzlich auch sichtbar zu werden vermag, das Bild zu Wort kommt. Wörtlich genommen, in der Tat. Denn allein zeigen die wirklichen Bilder nicht, was die Bilder wirklich zeigen sollten. Allein können sie nicht hinkommen zur Wirklichkeit und können sie diese auch nicht herbringen, allein gelassen von ihren Herstellern und Vermittlern, sich selbst überlassen wie letztendlich auch die Zuschauer. Man muß etwas in sie hineinlegen, sie interpretieren, sie mit Geist versehen, sie kommentieren. Das Auge muß entführt werden, entführt in einen Bereich der Bedingungszusammenhänge, Ursachen und Folgen. dieser, in diese montiert werden. Möglichkeiten des Zugriffs auf die Realität der Medialität sind zu studieren und zu probieren, in Diskursen und Experimenten. Damit der längst mediale Mensch zum längst notwendigen menschlichen Medium vorstößt. Das geht an die Adresse derer, die in den audiovisuellen Medien als Organisatoren tätig sind oder aktiv werden, an den Journalisten und an den Redakteur, an den Realisator. Und selbstverständlich nicht zuletzt auch an den Autor.

Erwin Reiss

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