piwik no script img

Die Fesseln des Stalinismus ablegen

■ Der Moskauer Professor für Gesellschaftswissenschaften, Dr. Jan Vogeler, wirbt in Bremen für die Perestroika Sowjetunion heute „keine entwickelte Gesellschaft“ / „Sozialistischer Pluralismus muß erst noch entwickelt werden“

„Ich war Stalinist. Ich schäme mich dessen. Ich glaube, daß wir Kommunisten jetzt erstmal mit unseren eigenen Verbrechen aufräumen müssen.“ Über die Befreiung der Sowjetgesellschaft von den „Fesseln der stalinistischen Vergangenheit“, über den Demokratisierungsprozeß im Rahmen der Perestroika und das Verhältnis zum Kapitalismus sprach am Freitag in Bremerhaven der Moskauer Gesellschaftswissenschaftler Professor Jan Vogeler. Sein Fazit: In der Sowjetunion finde eine umfasende soziale Revolution statt, die dank der „unerhörten Aktivierung“ innerhalb der Bevölkerung nicht mehr rückgängig zu machen sei.

Vogeler betont jedoch, daß die „schwere Deformation der Stalinzeit“ noch längst nicht überwuden sei. Er nennt als hemmende Faktoren eine überzentralisierte Planwirtschaft und den „konservativen, bürokratischen, noch sehr starken Organismus“ des Parteiapparats mit 15 bis 20 Millionen Menschen, die in der Stalinzeit erzogen wurden. Die politische Reform, sagt Vogeler, habe erst jetzt begonnen. Euphorisch berichtet er von der Wahlkampagne zum Kongress der Volksdeputierten, dem obersten Parteigremium, bei der ein gro

ßer Teil der alten Funktionäre durchgefallen ist. In den harten Diskussionen im Fernsehen, in den Zeitungen und in der Öffentlichkeit sieht er Ansätze für die

Entwicklung eines „sozialisti schen Pluralismus“. Kopfschmerzen mit

der nationalen Frage

Bewegung gebe es auch im konservativen Gewerkschaftsapparat, vor allem im Jugendverband Komsomol. Zahlreiche „informelle Jugendgruppen“ seien dabei, kritische Formen der Jugendarbeit zu entwickeln.

„Große Kopfschmerzen“ bereite die nationale Frage: Daß von zwei Millionen in der Sowjetunion lebenden Deutschen etwa 10 Prozent ausreisen wollen, be

zeichnet Vogeler als „eine Schande für uns“. Unzufrieden seien die sowjetischen Reformer auch darüber, daß es auf dem Gebiet der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften noch nicht gelungen sei, das stalinistische Erbe ganz zu überwinden. Dennoch setzten sich neue Gedanken durch, wie die von Medwedjew, Leiter der im Oktober letzten Jahres neu gegründeten „ideologischen Kommission“ des ZK: Seine These laute, daß eine erst siebzig Jahre existierende Gesellschaft, die so schwere Fehler durchgemacht habe wie die

Sowjetunion, „keine entwickelte, keine reife Gesellschaft“ sei und daher auch keine wissenschaftlich haltbare Theorie des Sozialismus formuliert werden könne. Vogeler: „Vor uns steht die Aufgabe, eine neue theoretische Konzeption der sozialistischen Gesellschaft in Angriff zu nehmen.“

Marxisten in der Sowjetunion müßten heute einsehen, daß die nach dem Zweiten Weltkrieg in den hochentwickelten kapitialistischen Industriegesellschaften einsetzende wissenschaftlich-technische Revolution „weder von Marx und Engels, noch von

Lenin vorausgesehen wurde“. Hier sei ganz gegen sozialistische Denkmodelle ein Stand der Produktivkraftentwicklung erreicht worden, der für die Verwirklichung der Marxschen Utopie („jedem nach seinen Bedürfnissen“) unentbehrlich sei.

In der technischen Revolution („Computerisierung“) sei der Westen dem Osten um mindestens zwei Jahrzehnte voraus. Vogeler fragt, ob diese Entwicklung nicht die notwendige Grundlage abgebe, daß „werktätige Menschen“ qualifiziert über die Produktion mitbestimmen könnten, so daß erst jetzt von einer „welthistorischen Rolle des Proletariats als Subjekt der Revolution“ gesprochen werden könne.

Um die andere Seite des Fortschritts, die Bedrohung menschlichen Lebens durch Krieg und ökologische Katastrophen, zu überwinden, plädiert er entschieden für enge Zusammenarbeit zwischen West und Ost: „Wir wollen mit dem Westen, mit Christen, Grünen, Liberalen, Arbeitern, Unternehmern in einen Dialog darüber eintreten, wie wir uns vor den anwachsenden Gefahren retten können.“

hh

Jan Vogeler spricht morgen, 10.5., um 20 Uhr im Bremerhavener Gemeindehaus „Große Kirche“ zum Thema „Christen und Kommunisten“.

Am Donnerstag, 11. Mai, ist er um 20 Uhr zu einem öffentlichen Vortrag im Bremer DKP-Büro, Hemmstraße/Lohmannstraße, Thema: „Geht die Perestroika kaputt?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen