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SPINNER

Sagen entstanden einmal vor Urzeiten. Seit zweihundert Jahren werden sie in dicken Büchern gesammelt und sind dort nachzulesen. Kinder bekommen sie zu hören und ein paar Germanisten, sonst interessiert sich kein Mensch dafür.

Alles falsch. Sagen entstehen heute. Wenn sie jemand erzählt, hören wir gespannt zu und erzählen sie weiter. Sicher, es kommen keine Nibelungen darin vor und keine Argonauten. Fernfahrer und Coca-Cola, Rolls-Roye und Anhalter spielen die tragenden Rollen. Rolf Wilhelm Brednich hat „sagenhafte Geschichten von heute“ zusammengetragen. Dazu ein Vorwort verfaßt, das seine Sammlung kurioser Kneipenerzählungen wissenschaftlich aufbereitet und uns so ganz nebenbei deutlich macht, daß auch die von unseren Lehrern angeblich so geschätzten Erzählungen aus der Gosse kamen.

Homer lebt. Seine Nachfolger sind die Spinner am Tresen, die einem die Hucke voll lügen: „Eine Bekannte berichtete, daß Freunde ihrer Eltern die folgende Geschichte erzählt hätten. Nach dem Krieg sei diese Familie von amerikanischen Verwandten regelmäßig mit Care-Paketen versorgt worden. Schokolade, Kaffee, Trockenmilch, alles habe man ihnen geschickt. Eines Tages traf ein Paket ein, in dem sich eine große schwarze Dose befand. Die Familie öffnete sie neugierig und fand ein Pulver, das man sofort - schon wegen der wertvollen Verpackung - für die neueste Nahrungsergänzung hielt. Man stellte die Dose in die Küche und verwöhnte täglich die Familie mit diesem Nahrungszusatz. Dann, Wochen später, traf ein Brief ein: 'Vor acht Wochen ist unsere geliebte Mutter und Großmutter verstorben. Ihrem Wunsch gemäß haben wir ihre Asche in die deutsche Heimat überführen lassen. Die Urne wird in den nächsten Tagen bei Euch eintreffen. Bitte bestattet sie feierlich.“ Wie es sich für richtige Sagen gehört, existiert auch diese Geschichte nicht nur einmal. Es gibt eine Fülle von Varianten. Lakonischere und ausstattungsfreudigere. Für jedes Publikum etwas.

Rolf Wilhelm Brednich, Die Spinne in der Yucca-Palme Sagenhafte Geschichten von heute, Verlag C.H. Beck, 157 Seiten, 9,80 DM

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