Deutschland - Moskaus letzter Trumpf im großen Politpoker?

■ Statements zur Deutschen Frage häufen sich / Der Run von Vertretern Berlins und Bonns auf den Kreml reißt nicht ab /Koloß im Herzen Europas soll nicht ohne Zutun des Moskaus entstehen

Ein Interview von Außenminister Schewardnadse für die 'NBI‘, Gorbatschow in einer Fernsehpremiere in einer Gemeinschaftssendung von ARD und DDR-Fernsehen direkt aus dem Kreml - weitere Statements und Äußerungen des ersten Mannes der sowjetischen Außenpolitik und anderer Kreml -Politiker häufen sich. Im Kreml geben sixh die Vertreter aus Berlin und Bonn die Türklinke in die Hand.

Es dreht sich um „Deutschland einig Vaterland“ mit all seinen Varianten und Ecken - Nato, Neutralität, Sicherheitsinteressen, Verantwortung der vier Siegermächte, Artikel 23, Revanchismus, „Rechte der DDR-Bevölkerung“. Die Balalaika spielt zum letzten großen Polit-Poker des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf. Gelingt es Gorbatschow doch noch, die Trumpfkarte Deutschland in der entscheidenden Partie der vier Großmächte zu ziehen? Der Einsatz ist hoch. Es geht um die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges.

Moskau ist bereit, alles auszuspielen, damit nach 45 Jahren die Früchte nicht von den Deutschen geerntet werden. Zumindest soll der „neue Koloss im Herzen Europas“, wie Gorbatschow das vereinte Deutschland nannte, nicht ohne Zutun des Kreml entstehen.

Eine Vereinigung Deutschlands entsprechend Artikel 23 des Grundgesetzes würde die vier Siegermächte zu Zaungästen des Vereinigungsprozesses verurteilen. Sie hätten dann, und da haben die Sowjets recht, nur noch die Realität des vereinigten Deutschlands zu bestätigen. Deshalb auch die beharrlichen Versuche Moskaus und auch der Modrow-Regierung, aus dem „2 plus 4“ von Ottawa ein „4 plus 2“ zu fabrizieren. Damit wäre dem Kreml der entscheidende Mechanismus in die Hand gegeben, seine Vorstellungen und die seiner engen Freunde für die Gestalt und die Rolle des zukünftigen Deutschlands durchzusetzen.

Und Schewardnadse macht erneut deutlich, welche Pflöcke auf dem Weg zur deutschen Einheit von den Sowjets noch eingerammt werden: Wahrung der Sicherheit in allen ihren Hauptteilen, Anerkennung der Grenzen, Abschaffung der militärischen Gefahr von deutschem Boden, Entmilitarisierung, Garantien für die Nichtwiedergeburt von Nazismus, Lösung der Frage über den Platz Deutschlands in den militärisch-politischen Bündnissen, Viermächteverantwortung, ausländische Truppen auf dem Territorium Deutschlands, Regelung der als Folgen des Krieges entstandenen finanziellen und materiellen Ansprüche an Deutschland und anderes mehr.

Zugleich hegt Moskau nicht unberechtigte Befürchtungen, daß eine Vereinigung gemäß Artikel 23 alle Abkommen und Vereinbarungen, die in den 40 Jahren zwischen der DDR und der SU abgeschlossen wurden und mit denen um die DDR ein enges, fast unlösbares Geflecht geknüpft wurde, unwirksam macht. Ein Rechtsnachfolger wäre nur in einem Friedensvertrag oder einem anderen gleichwertigen Dokument zu bestimmen. Darin könnten auch andere Regelungen nach den Auffassungen Moskaus verankert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Kreml offensichtlich bereit, auch in der Frage der Zugehörigkeit zur Nato Kompromisse einzugehen. Die Genscher-Variante wird nicht mehr eindeutig verworfen.

Wichtig für die SU ist, Zeit zu gewinnen. Deshalb unterstützt sie nach wie vor die Konzeption von Premier Hans Modrow über die etappenweise Bewegung in Richtung einer deutschen Förderation. Eine „Synchronisation“ mit dem europäischen Einigungsprozeß soll sichergestellt sein. Eine einfache Angliederung, so Schewardnadse, ein Anschluß der DDR an die BRD müsse ausgeschlossen werden. Es dürfe keine „Blitzpartie“ geben, die ambitiösen Politiker eilig durchexerzieren wollen.

Die Karten werden von Moskau gemischt. Wichtige Entscheidungen sollen beim nächsten Gipfeltreffen Gorbatschow/Bush im Sommer getroffen werden. Bis dahin werden weitere Vorstöße des Kremls nicht lange auf sich warten lassen.

Klaus Walter