: Litauen ist seit Montagunabhängig
■ Das litauische Parlament leitet den Zerfall des Sowjetreiches ein / Wird Gorbatschow trumpfen?
Berlin (taz) - Am Montag verabschiedete der litauische Oberste Sowjet einen Appell an die Völker der Welt, in der diese zur „brüderlichen Solidarität und Unterstützung„ aufgefordert werden. Litauen betonte die Garantie der Rechte aller Bürger und der nationalen Minderheiten.
Das Parlament schickte außerdem einen Brief an Gorbatschow, in dem es heißt: „Wir benötigen ständige gute politische und wirtschaftliche Beziehungen mit der UdSSR und rechnen mit ihrem Entgegenkommen„. Auch an UdSSR-Premier Ryshkow wurde geschrieben mit der Bitte, alle mit Litauen abgeschlossenen Verträge zu erfüllen.
Die Sowjetregierung hat unterdessen die Welt vor einer Anerkennung des neuen Staates gewarnt. „Wer offiziell versuchen sollte, uns etwas zu diktieren, würde sich der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion schuldig machen„, erklärte Sprecher Gennadi Gerassimov am Montag in Moskau.
Sympathie gegenüber Litauen zeigen vor allem Polen, Unagarn und Österreich. Polen erklärte, die Litauen hätten ihr Recht auf Selbstbestimmung ausgeübt. Lech Walesa schickte ein Glückwunschtelegramm an den neuen litauischen Präsidenten Landsbergis. Der Staatssekretär im Budapester Außenministerium, Laszlo Kovacs, erklärte, Ungarn sei bereit, die Unabhängigkeit Litauens offiziell anzuerkennen. Das Außenministerium in Wien erklärte, das litauische Volk habe „von seinem Recht auf Selbstbestimmung in demokratischer Weise Gebrauch gemacht„.
Frankreich, Großbritannien, die skandinavischen Länder und die BRD übten eher Zurückhaltung. In Bonn sagte Außenamtssprecher Jürgen Ohrobog, die Frage der Anerkennung sei „schwierig“. Der schwedische Außenminister Sten Andersson meinte, eine Anerkennung könnte nur im Rahmen des KSZE-Prozesses erfolgen.
Die Haltung der USA ist widersprüchlich. Washington forderte Moskau zwar auf, den Willen der Litauer zu respektieren: „Wir appellieren an die sowjetische Regierung, ihre Besorgnisse und Interessen umgehend in konstruktiven Verhandlungen mit der Regierung Litauens anzusprechen„. Die US-Regierung bekräftigte jedoch, sie selber werde die neue Regierung noch nicht anerkennen. „Jedwede Anerkennung sollte nach unserer Meinung eine endgültige Regierung in Rechnung stellen, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal hat, und vieles davon muß jetzt noch mit der Sowjetunion ausgehandelt werden„, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Marlin Fitzwater. Die Sprecherin des State Departments, Margaret Tutwiler, erklärte, die Probleme müßten im gegenseitigen Interesse Litauens, der UdSSR und aller KSZE-Staaten gelöst werden.
Moskau regierte scharf auf die amerikanische Forderung nach Anerkennung. Gerassimov sagte: „Wir verbitten uns jedes Diktat„. Am Dienstag lehnte Gorbatschow nochmals Verhandlungen mit dem neuen Staat ab. „Verhandlungen führen wir mit ausländischen Staaten„, sagte er dem Volksdeputiertenkongreß. Die Unabhängigkeitserklärung bezeichnete er als unrechtmäßig. In dieser Situation müsse aktiv gehandelt werden. Zur Debatte um Litauen waren die litauischen Abgeordneten des Kongresses als Beobachter anwesend.
Vilnius (adn) - Nach kontroverser Diskussion hat das litauische Parlament am Montagabend mit knapper Mehrheit beschlossen, die Debatte unter Ausschluß der Öffentlichkeit fortzusetzen. Kurz zuvor war von einem Abgeordneten unter Berufung auf seine Wähler die Neuwahl der Führung des Obersten Sowjet gefordert worden.
Auf einer Pressekonferenz bestätigte die Regierung den Eingang von Protestbriefen zur Wahl von Landsbergis zum Präsidenten. In den Briefen soll die Direktwahl des litauischen Präsidenten durch das Volk gefordert worden sein.
Am Montagabend war außerdem eine heftige Diskussion über die Präsenz sowjetischer Streitkräfte auf litauischem Territorium entbrannt. Wie mitgeteilt wurde, hat seit Sonntag eine Welle von Desertionen litauischer Wehrdienstpflichtiger eingesetzt. Ihnen droht nach sowjetischem Militärgesetz strenge Bestrafung.
Tallinn (adn) - Der Austritt Estlands aus der UdSSR ist erklärtes Ziel des sogenannten „Kongresses Estlands“, dessen zweitägige Beratungen am Montag zu Ende gingen. Der Kongreß war von drei neuen Organisationen veranstaltet worden. Am Sonntag hatten sie der sowjetischen Regierung Verhandlungen über die estnische Unabhängigkeit angeboten. Die 499 Delegierten wählten ein Komitee, das „im Namen aller Bürger Fragen des inneren Lebens regeln und Außenpolitik betreiben soll„.
Moskau (adn/taz) - Am Dienstagvormittag wurden Michail Gorbatschow, Nikolai Ryshkow und Innenminister Wadim Bakatin als Kandidaten zum Amt des Staatspräsidenten vorgeschlagen. In der Folge der litauischen Unabhängigkeitserklärung hat das Amt eine ungeahmte Brisanz erhalten. Der Präsident soll in einzelnen Teilen des Landes den Ausnahmezustand verhängen können. Gegen Entscheidungen des Obersten Sowjets kann er ein Veto einlegen und - falls dies vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt wird - zu seiner Unterstützung den Volksdeputiertenkongreß einberufen.
Der radikale Abgeordnete Affanassjew hatte sich am Montag scharf gegen eine solche Machtballung ausgesprochen. Zur angespannten Situation der Union sagte er: „Der Grund liegt nicht in einem Mangel an Macht der gegenwärtigen Führung, sondern in einem Mangel an Vertrauen zu ihr. Die Frage der Präsidentschaft entscheidet sich in einer Situation, in der die Politik der gegenwärtigen Führung eine entscheidende Niederlage erlitten hat. In dieser Situation setzt man wieder auf Gewaltanwendung und auf Ausnahmezustände. Wenn der Führer und Initiator unseres Staates wirklich etwas begründet hatte, dann war es eine Tradition der Massengewalt und des Terrors„. Auf Zwischenrufe: „Es reicht!„ antwortete der Kongreßvorsitzende mit der Aufforderung an Affanassjew, seinen Beitrag abzubrechen. Darin wurde er von Gorbatschow unterstützt.
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