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Wie es zur Wende kam - aus den Stasi-Dokumenten

■ Der Ost-Berliner Basisdruck-Verlag veröffentlicht politische Lageeinschätzungen der Staatssicherheit / Stasi-Chef Mielke dämmerte „streng geheim“ Ende August 1989 bei einer Lagebesprechung über die Ausreiser, daß der Sozialismus am Ende sein könnte / Die Staatssicherheit wußte alles - aber immer erst, als es zu spät war

„Hielten sie (die regierenden Kreise) die ihnen vorgegaukelte Welt der Massenaufmärsche und Erfolgsmeldungen wirklich für die Realität? ... Warum ragiert die Parteiführung nicht auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung?“ Diese Fragen sollen die Stasi-Dokumente beantworten, die dieser Tage im Basisdruck-Verlag im Haus der Demokratie (Berlin) unter dem Titel „Befehle und Lageberichte des MfS“ erscheinen. Die 56 dort weitgehend ungekürzten „Hinweise“ des Stasi für die Partei- und Staatsführung und Befehle des Stasi-Chef Mielke für die Dienststellen geben Aufschluß über die Unfähigkeit der staatlichen Stellen, auf die Zuspitzung der Krise der DDR -Gesellschaft im Jahre 1989 zu reagieren.

„Hielten sie (die regierenden Kreise) die ihnen vorgegaukelte Welt der Massenaufmärsche und Erfolgsmeldungen wirklich für die Realität? ... Warum ragiert die Parteiführung nicht auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung?“ Diese Fragen sollen die Stasi-Dokumente beantworten, die dieser Tage im Basisdruck-Verlag im Haus der Demokratie (Berlin) unter dem Titel „Befehle und Lageberichte des MfS“ erscheinen. Die 56 dort weitgehend ungekürzten „Hinweise“ des Stasi für die Partei- und Staatsführung und Befehle des Stasi-Chef Mielke für die Dienststellen geben Aufschluß über die Unfähigkeit der staatlichen Stellen, auf die Zuspitzung der Krise der DDR -Gesellschaft im Jahre 1989 zu reagieren.

Namentlich bekannte kirchliche Kreise

Diese Krise erscheint in den frühen Stasi-Berichten zunächst überhaupt nicht. Die Dokumentation beginnt mit einem Bericht über den Schweigemarsch zum 70. Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Leipzig am 7.1.1989 die Organe hatten zwei nächtliche Flugblattverteiler erwischt und dabei 102 Blätter, offenbar akribisch gezählt, konfisziert. „Sozialistische Demokratie beginnt nicht erst im gelobten Land, wird auf dem Papier mit Rosa Luxemburg gefordert. Die Staatssicherheit kennt ihre Pappenheimer, Einschüchterungsmaßnahmen haben keinen durchschlagenden Erfolg: Der Leipziger Sekretär Schumann teilt in seinem persönlichen Brief an den „lieben Genossen Erich Honecker“ vom 16.1. mit, bei dem von kirchlichen Kreisen organisierten „Schweigemarsch“ seien „keine Symbole“ mitgeführt worden. Die Staatssicherheit nimmt das Ereignis sehr ernst, kann aber nach Berlin mitteilen, der Vorfall habe wegen der Fußgängerströme „kaum Öffentlichkeitswirkung“ gehabt.

Die Staatssicherheit berichetet regelmäßig über die kleinen Grüppchen, sie nennt immer wieder dieselben Namen der Rädelsführer, sie kennt auch die Themen. Bei der Umwelt -Gruppe „Arche“ will das MfS sogar quasi pädagogisch eingreifen, nämlich „Mitglieder und Sympatisanten in entsprechende gesellschaftliche Aktivitäten im Rahmen des Umweltschutzes einbeziehen“. (Bericht 14.2.)

Die Liebe der Stasi zur unpolitischen Theologie

Soweit diese Oppositionsgruppen im Rahmen der Kirche Arbeiten, gibt es für die Stasi immer wieder dieselbe Strategie: Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern und ein Drängen auf „Theologisierung“ der innerkirchlichen Arbeit. Beim Friedensseminar vom 26. Februar in Greifswald wird aber deutlich, daß diese Strategie nicht immer zieht; detaillierte Spitzel-Berichte aus den Arbeitsgruppen zeigen den ausschließlich politischen Charak

ter des kirchlichen Seminars: Die „langfristig und gezielt“ erfolgte „staatliche und gesamtgesellschaftliche Einflußnahme gegenüber der Kirchenleitung“ fruchtete nicht, „die vorgegebene thematische Zielsetzung wurde inhaltlich nicht im Sinne des theologischen und religiösen Selbstverständnisses umgesetzt“, muß die Stasi enttäuscht feststellen. Immerhin habe „durch langfristig gezielte Einflußnahme staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte ... die Wiederwahl von Ulrike Poppe, Pfarrer Tschiche und Albani sowie von Silvia Müller verhindert“ werden können. Immer wieder dieselben Namen. Gesellschaftliche Probleme

Die „Antragsteller“, die in Leipzig regelmäßig demonstrieren, sind der Staatssicherheit namentlich weit weniger bekannt. Ca. 650 Personen hätten am 13. März nach dem Friedensgebet demonstriert, die „provokatorische“ Aktion wurde von 850 Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsgruppe „sowie gesellschaftliche Kräften“ verhindert. Wiederholt sei es zu „verleumderischen Rufe wie 'Stasi raus'“ gekommen, beschwert sich Mielke, alles natürlich „streng geheim“.

Im Zusammenhang der Kommunalwahlen werden in den dokumentierten Stasi-berichten erstmals gesellschaftliche Probleme benannt. Trinkwasserversorgung, fehlende Beleuchtungseinrichtungen auf Wegen, Fragen er sozialen Betreuung lösten bei der Vorbereitung der Kommunalwahlen Unmut aus, berichtet die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) am 26.4. an Mielke, „die Stimmung unter breiten Teilen der Bevölkerung habe sich ... verschlechtert“. Nichtteilnahme an der Wahl drohe. „Betroffenheit“ bei SED-Mitgliedern registriert die Stasi gleichzeitig „über die ganze Kompliziertheit der Situation in der UdSSR“, „destabilisierende Wirkungen in anderen sozialistischen Ländern“ werden befürchtet - das Thema taucht aber in den ausgewählten Stasi-Protokollen nicht häufig auf.

Zu Irritation im Volk kam es dagegen über das überraschend eingeführte Wahlrecht für Ausländer. „Auseinandersetzungen in Arbeitskollektiven“ vor allem mit Polen seien Anlaß zu Zweifeln an diesem Volkskammer-Beschluß. Am 7. Mai kommt es dann tatsächlich zu 11 gezählten „gegen die Kommunlwahlen gerichteten Vorkommnissen“, die West-Journalisten waren offenbar aufmerksam gemacht worden, ihre Aktivitäten werden von der Stasi minutiös verfolgt.

Im Juni 1989 sah sich die Staatssicherheit immerhin veranlaßt, in einem dicken Bericht noch einmal die Facetten der Oppositionsgruppen und ihre Rädelsführer aufzulisten. „Das Gesamtpotential der Zusammenschlüsse“ beträgt nach der Stasi-Rechnung zu dieser Zeit 2500 Personen, das Programm dreht sich um die „Erneuerung des Sozialismus“, die Entmilitarisierung, die

Aufgabe des SED-Totalitätsanspruches und und Probleme des Umweltschutzes. Sehr präzise beschreibt die Stasi die Methoden der Bewegung: durch „stille Demonstrationen provokatorisch-demonstrativen Charakters“, zum Beispiel Kerzenmahnwachen vor Kirchen, solle „unterhalb der Schwelle einer strafrechtlichen Relevanz“ gearbeitet werden. Bei der Kirche mißfällt der Stasi das „ständige Lavieren und Taktieren“ der verantwortlichen Bischöfe. Als Gegenstrategie fordert die Stasi ein „noch einheitlicheres und konzeptionell gesichertes politisch-ideologisches und operatives Zusammenwirken und Vorgehen aller zuständigen staatlichen Stellen“. Konkret: Aktionen sollen „vorbeugend“ unterbunden werden durch „gezielten Einsatz staatlicher oder gesellschaftlicher Kräfte“, „progressive“ innerkirchliche Kreise sollen unterstützt, Auslandskontakte unterbunden werden. Und: „Schaffung von gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten zur Kanalisierung bestimmter Aktivitäten vorgenannter Kräfte in gesellschaftsgemäße Bahnen“, Einfluß auf die Kirche, um die Gruppen „stärker zu theologisieren“. Auch auf der Eben der Sprache entwickelt die Stasi eine Strategie: Die Gruppen sollen „im aktuellen Sprachgebrauch und Umgang konsequent als 'kirchliche Gruppen‘ bezeichnet und behandelt werden“, um die Landeskirchen stärker „verantwortlich zu machen“.

Vorzüge des Sozialismus sind nicht mehr entscheidend

Die Haltung der SED zu China führt im Juni noch einmal zu großen Protestversammlungen in den Kirchen, einen ganz anderen Tenor bekommen die Stasi-Berichte aber erst angesichts der Ausreisewelle. Im Juli informierte das MfS „streng geheim“ über das bedrohliche Anwachsen der Ausreiser. 38.000 gingen im 1. Halbjahr 1989 weg, 1988 waren es nur 10.000 in derselben Zeit gewesen. Und 129.000 Anträge seien gestellt. Da werden die Berufsgruppen aufgelistet, nach Altersgruppen differenziert und nach regionaler Verteilung: die Stasi hat die Ausreisewelle als sozialen Skandal analysiert. Der Stasi-Chef aus Erfurt, Generalmajor Schwarz, gibt in einer Dienstbesprechung am 31.8. das Stichwort für Honecker: „Es sind eine Reihe von jungen Menschen weggegangen, um die es nicht schade ist“, sagt er. Aber „leider sind ein paar Jugendliche dabei, die aus gutem Elternhaus sind - bis zum Mitarbeiter.“ Stasi-Chef Mielke sieht die Lage klar: „Die Anzahl, die da weggeht, ist empfindlich... Warum? Jetzt gibt es keine Bananen oder der eine hat das nicht und jenes nicht.“ Mielke stellt die „Kernfrage“: „Gibt es bei uns hier im sozialistischen Lager .. nicht intelligente Menschen, die hervorragend ihre Betriebe und ihre Institutionen leiten können? Oder können es wirklich nur die Leute im kapita

listischen Lager?“ Die Frage findet auf der Stasi -Lagebesprechung keine Antwort, es werden keine Konsequenzen debattiert.

Am 9. September 1989 datiert ein „streng geheimer“ zusammenfassender Bericht des MfS über „motivbildende Faktoren“ für die Ausreise-Welle. Die „Vorzüge des Sozialismus“ würden nicht mehr als die „entscheidenden Faktoren“ angesehen, steht da zusammenfassend, der „Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD“ führeten zu einer „negativen Bewertung der Entwicklung in der DDR“. Seitenweise werden die Probleme auf den Tisch gepackt: die Versorgungslage, die unzureichenden Dienstleistungen, die mangelnde medizinische Betreuung, die eingeschränkten Reisemöglichkeiten, die die unbefriedigenden Arbeitsbedingungen, fehlender Leistungsbezig bei den Löhnen, Verärgerung über bürokraztische Leiter, schließlich das Unverständnis über die Medienpolitik der DDR. Zwei Tage später, am 11.9. berichtet das ZAIG an Mielke „nur zur persönlichen Kenntnisnahme“ über die „tiefe Sorge langjähriger Parteimitglieder“, „zahlreiche Parteimitglieder“ unterschieden sich mit ihren Auffassungen „kaum noch von Parteilosen“. Am 19.9. muß die Stasi registrieren, daß es selbst im staatlichen Rundfunk Sympathien für die Auffassungen der Opposition gibt.

Reformkonzepte scheint es jedoch nicht gegeben zu haben. Als die Anfang Oktober aufgelistet werden - Reform der Volkswirtschaft, Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie, ehrliche Informationspolitik, „volle Gewährleistung innerparteilicher Demokratie“ - ist es längst zu spät. Mielke scheint diese Reform-Vorschläge nicht mehr an die Staats- und Parteiführung weitergegeben zu haben. Die Oppositionsgruppen - vom Neuen Forum bis zur SDP - waren gegründet, Pfarrer Meckel hatte nach dem Stasi-Bericht auf der SDP-Gründungsversammlung festgestellt, der Begriff des Sozialismus sei „für die Massen wertlos geworden“. Als Mitte Oktober die Kampfgruppen der Arbeiterklasse zusammengerufen werden ollen, um die Ordnung zu verteidigen, gibt es Befehlsverweigerung und Austritte aus der SED. „Schlußfolgerungen“, wie die „Einsatzfähigkeit“ der Kampfgruppen gewährleistet werden könnte, überläßt die Staatssicherheit, die bis dahin alles selbst zu steuern versuchte, diesmal vornehm zurückhaltend der Partei.

Aber die Reformfähigkeit der Partei „und ihr Wille dazu werden vielfach angezweifelt“, konstatiert das MfS am 16.10. „Zahlreiche Mitarbeiter zentraler staatlicher udn wirtschaftsleitender Organe, Mitglieder und Funktionäre der SED erklären, nicht mehr zu akzeptieren, daß es im realen Sozialismus in der DDR Massenfluchten, Mangelerscheinungen, ökonomische Stagnation, offene Unzufriedenheit unter der Bevölkerung sowie lebensfremde Medienpolitik“ gibt.

Aber das Fernschreiben des neuen Generalsekretär der SED, Egon Krenz, am 25.10. an alle Stasi-Dienststellen weitergeleitet, gibt auch keinerlei Fingerzeig, wo es lang gehen könnte. Die SED war, das zeigen diese Dokumente ihres kompetentesten Organs zur Politikberatung, von der fundamentalen Welle der Unzufriedenheit völlig überrascht und hat eigentlich immer nur nachvollzogen, was offenkundig wurde - reagieren konnte sie nicht.

Nachdem die Stasi die Welle der gesellschaftlichen Unzufriedenheit festgestellt und die Ratlosigkeit der Partei dokumentiert hatte, ordnet Mielke am 2.11. die „absolute Hausbereitschaft für ,50% des Ist-Bestandes der Diensteinheiten“ an. Ein letztes hilfloses Sträuben gegen die Kapitulation des SED-Regimes, das eine Woche später, am 9.11., in die Öffnung der Mauer hineinstolpert und damit sein Scheitern besiegelt.

Was fehlt in den Stasi-Dokumenten (zumindest in der Auswahl der Dokumentation), ist die Auseinandersetzung mit der ungarischen Politik der offenen Grenze, die erst das Anschwellen der Ausreise-Welle ermöglichte und damit der DDR -Bevölkerung den Mut zum Aufbegehren gab, den ihr noch Anfang des Jahres niemand zugetraut hätte - auch die Stasi nicht.

K.W.

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