: Der deutsche Tellerrand
Wider den Eurozentrismus in der Deutschlandpolitik ■ K O M M E N T A R
Es ist soweit: das europäische Haus wird bezugsfertig gemacht. Die Wirtschaftsminister Europas beraten in Rom, die Innenminister in Bonn, die Außenminister überall. Vom Heroinhandel im Balkan bis zu den EG-Subventionen in Irland bleibt kein Thema unberührt. Der deutsche Tellerrand ist größer geworden. Und im Teller häuft sich Reichtum an, in Gestalt des gesamteuropäischen Unternehmertums.
Dazu als Beilage wird jede Menge krausen Geschichtsbewußtseins hervorgekramt. Die deutsche Teilung ist Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und muß deshalb rückgängig gemacht werden. Die europäische auch, denn Jalta ist überholt. Der alte Spruch der Friedensbewegung, wir lebten nicht in einer Nachkriegs-, sondern in einer Vorkriegszeit, hat sich zur Grundlage europäischer Politik gemausert. Der deutsche Tellerrand wird ein europäischer, und das Menü heißt: Die Folgen des Zweiten Weltkrieges aufheben.
Daß dieser Krieg ein Weltkrieg war, wird jedoch vergessen. Die erste europäische Kriegshandlung war nicht der deutsche Überfall auf Polen, sondern die italienische Eroberung Äthiopiens. Entscheidungsschlachten fanden nicht nur in der Sowjetunion statt, sondern auch in Nordafrika. Die alliierten Truppen stammten nicht nur aus Europa oder Amerika, sondern auch aus Indien, Senegal, Madagaskar, Nepal. Aber die heimkehrenden afrikanischen Söldner der französischen Republik wurden von ihren weißen Kommandeuren zusammengeschossen, als sie eigene Republiken gründen wollten (80.000 Tote allein in Madagaskar 1947). Und wohin gingen eigentlich die Libyer, als Rommel und Montgomery sich in ihrem Land bekämpften?
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges trafen nicht nur Europa. Nicht Europa, sondern die Welt wurde in zwei politische Lager gespalten. Nicht Europa, sondern die Welt erhielt in Bretton Woods das Finanzsystem, auf dem die heutige Weltwirtschaftsordnung immer noch beruht. Und nicht Europa, sondern die Welt gründete die Vereinten Nationen. Das wichtigste Ergebnis des Krieges war nicht die Teilung Europas, sondern das Zusammenwachsen der Welt. Das eine kann nur zusammen mit dem anderen rückgängig gemacht werden. Indem der europäische Vereinigungstaumel, der dem deutschen gegenüber als Fortschritt gilt, die Vorkriegsordnung wiederherstellt, zementiert er auch die erneute Abwendung Europas vom Rest der Welt und seinen 4,5 Milliarden Menschen. So wird Europa, mit 10 Prozent der Weltbevölkerung, zu einem Haus ohne Fenster. Es sei daran erinnert: wer in Finsternis lebt, wird eines Tages heimgesucht von dem, was die Deutschen Aufklärung nennen, die Franzosen „les Lumieres“, zu deutsch: Licht.
Dominic Johnson
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