piwik no script img

Auf der Suche nach Amerikas Obdachlosen

Die alle zehn Jahre in den USA abgehaltene Volkszählung versucht mit kuriosen Mitteln diesmal auch die Obdachlosen zu erfassen  ■  Aus Washington Rolf Paasch

Frühlingsanfang in Washington D.C. Ein Schneesturm überrascht und schüttelt die Kirschblüten, die sich in diesem Jahr viel zu früh vorgewagt haben. Wer an diesem Dienstag abend noch aus einer der Downtown-Kneipen ins Freie tritt, ist froh, wenn er den schützenden U-Bahn-Eingang erreicht hat. Doch für die 130 Zähler des „Nationalen Volkszählungsbüros“ gibt es keine Entschuldigung, sich in die Wärme zu flüchten. Sie müssen in dieser Nacht, wie ihre rund 15.000 Kollegen draußen im Lande, die Obdachlosen ihrer Stadt zählen. Denn zehn Tage vor dem „National Census Day“ am 1.April, an dem alle zehn Jahre verfassungsgemäß das Volk gezählt wird, hat sich Uncle Sam für 1990 etwas Besonderes ausgedacht.

Der Staat will wissen, wieviele Obdachlose es im Land gibt. „Auch die Obdachlosen verdienen es, gezählt zu werden“, hatte Peter Bounpane vom „Buereau of Census“ auf der abendlichen Pressekonferenz erklärt, ehe er seine Zähler mit den Pressevertretern im Schlepptau zunächst in die Obdachlosenasyle der Hauptstadt losschickte. Mit den Worten „Everybody is somebody“, verteidigte er die 2,7 Millionen Dollar teure Zählaktion, sei es auch nur ein Schaf oder eine Nummer. „Wenn wir die Obdachlosen nicht mitgezählt hätten, wäre der Streit noch viel größer geworden.“

Und Streit gab's in Washington gleich zu Beginn. Als die Volkszähler in ihren rot-weißen „Census„-Jacken im selbstverwalteten Obdachlosenheim in der D-Street Einlass begehren, tritt ihnen Mitch Snyder, Leiter des Selbsthilfe -Projektes mit 1.400 Schlafplätzen bockig entgegen. Die nächtliche Erfassung, so Snyder, werde eine deutliche Unterschätzung der wahren Obdachlosenzahlen bringen. „Diese Regierung wartet doch nur auf Eure allzu niedrigen Zahlen, um dann die staatlichen Mittel für die Obdachlosen weiter zu streichen“, erklärt Snyder seine mangelnde Kooperationsbereitschaft. Niemand, nicht einmal die Zensus -Behörde selbst, erhebt den Anspruch, in dieser Nacht eine Totalerfassung aller Obdachlosen durchführen zu können.

Die Zähler werden im ganzen Land lediglich 20.000 Orte anlaufen, an denen die jeweiligen Lokalbehörden in der Vergangenheit Obdachlosennester ausgemacht haben. Der Wohungslose, der im Auto schläft, die alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Kind notgedrungen bei den Eltern wohnt, die Hobos außerhalb der größeren Städte und die eine Million Knastinsassen werden jedoch weiterhin statistische „Nobodies“ bleiben. „Wir zählen nur eine Komponente der Obdachlosen-Bevölkerung“, lautet die begrenzte Aufgabenstellung im Amtsamerikanisch. „Wenn die Politiker erst die Zahlen in den Fingern haben“, kontert Mitch Snyder, „sind die Umstände der Erhebung schnell vergessen.“ In den übrigen Pennerheimen Washingtons läßt man sich jedoch bereitwillig zählen. „Je mehr Obdachlose wir haben, um so mehr Gelder können wir von der Bundesregierung verlangen“, hofft ein Bewohner des „Pierce Shelter“ auf einen positiven Effekt der Obdachlosenerfassung.

Um ein Uhr morgens beginnt Runde zwei des staatlichen Penner-Monopolys. In Zweiergruppen brechen die Volkszähler auf, um bis vier Uhr die Bewohner von Hauseingängen und warmen Luftschächten statistisch zu erfassen. Um 1.45 Uhr hat unser Zählerduo, gefolgt von einer Handvoll Kamerateams und Radioreportern, an der Ecke von 20th und L-Street das erste Obdachlosenobjekt gefunden. Die gute alte Frau, die auf einem Karton im Eingang des „Townhouse Delikatessen„ -Ladens liegt, zeigt allerdings eine durchaus menschliche Reaktion auf den nächtlichen Überfall: „Haut ab hier“, faucht sie die Zähler an und hält sich ihre dünne blaue Decke vors Gesicht. Vor dem Bargeldautomaten der Signet Bank nur eine Straßenecke weiter stößt unsere Karawane auf drei Müllsäcke mit menschlichem Inhalt. Da sich trotz der Kamerascheinwerfer kein Schlafender regt, müssen die Volkszähler die Rubriken Alter, Geschlecht und Rasse offen lassen. Gezählt wird trotzdem.

Schätzungen über die Anzahl der Obdachlosen in den USA reichen von 250.000 bis drei Millionen. Wieviel es auch immer sein mögen, die „new homeless“ sind unbestreitbar ein Resultat der Reagan-Jahre. Die Reduktion des Wohnungsbauetats seit 1980 um 75% von 32 Milliarden Dollar auf 8 Milliarden und der rasante Anstieg der Mieten in den Innenstädten sind die Hauptgründe für das rasch anwachsende Obdachlosenheer. Rund ein Drittel aller Obdachlosen sind geistig behindert, ein Resultat der sogenannten De -Institutionalisierung von Pflegeheimen in den 60er und 70er Jahren, die nicht mit einem entsprechenden Aufbau staatlicher Fürsorgeleistung zur sozialen Betreuung der Patienten einherging. Ein Drittel sind Alkoholiker, rund 90% unverheiratet. Der Anteil ethnischer Minoritäten nimmt zu; Frauen (oft mit Kindern) stellen mittlerweile über ein Drittel der Obdachlosen; ihr Anteil an Washingtons geschätzten 8.000 Obdachlosen ist binnen fünf Jahren um 100% gestiegen.

Unser Volkszählungskonvoy hat inzwischen an der Ecke 23ste und P-Street direkt vor der Schwulen-Disco „Badlands“ halt gemacht. Ausgerüstet mit einem Handscheinwerfer marschieren die beiden Zähler schnurstracks in den gegenüber liegenden Park. Die Reporterin fürs Lokalradio ist ob der wenigen Gezählten und deren Mundfaulheit mittlerweile so verzweifelt, daß sie den Korrespondenten der ARD -Tagesthemen zu seiner Meinung über die Obdachlosigkeit interviewt. Beinahe erleichtert umzingelt der Tross einen einsam im Park stehenden Mann, der sich jedoch gleich entschuldigt, ein Kopf über dem Dach zu haben. „Ich weiß, es ist kalt hier“, deutet er den Grund für sein nächtliches Verweilen im Park an, „aber was sein muß, muß sein.“ Enttäuscht ziehen unsere Volkszähler auf der Suche nach den Pennern Amerikas weiter. Zwischen vier und acht Uhr in der Frühe gilt es die Obdachlosen in verlassenen und leerstehenden Gebäuden zu zählen. Betreten dürfen die Volkszähler die Häuser jedoch nicht...

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen