: Psychokrieg um Litauen
■ Panzer rollen durch Vilnius / Ligatschow und Landsbergis wiegeln ab / Gorbatschow sagt nichts
Berlin (taz) - Ein schöneres Schauspiel für die internationalen Medien konnte es gar nicht geben als die 98 gepanzerten Fahrzeuge, die am Samstag um 4 Uhr früh durch die litauische Hauptstadt Vilnius rollten. Sie fuhren in einem Halbkreis um das Parlament und verschwanden in einen Militärstützpunkt im Norden der Stadt. Der beabsichtigte Effekt ließ nicht lange auf sich warten.
Die USA, die EG, Dänemark, Schweden und andere Länder riefen die UdSSR zum Verzicht auf militärische Mittel bei der Lösung der Krise auf. So konnte sich Igor Ligatschow vor die Journalisten der 'Argumenty i Fakty‘ stellen und behaupten: „In dieser Angelegenheit helfen keine Panzer. Wir sind weise genug, dies nicht zu wiederholen. Daran bestehen keine Zweifel“. Gleichzeitig stellte er sich gegen „Sajudis“, deren Vorgehen die Lage unnötig zugespitzt habe.
So konnten sich denn die Konservativen in der KPdSU gegenüber der Weltöffentlichkeit als Abwiegler profilieren. Die Litauer selber nahmen es eher gelassen hin. Nach einem dramatischen Appell an Gorbatschow vom Samstag abend, in dem die Lage als „kritisch“ und das Verhalten Moskaus als „Fortsetzung der Aggression von 1940“ bezeichnet wurde „man bedroht Litauen, man beschuldigt uns grundlos“, hieß es - wiegelte Vilnius am Sonntag ab. Präsident Landsbergis erklärte, eine militärische Intervention sei unwahrscheinlich. Das jetzige Moskauer Vorgehen sei ein „Psycho-Krieg“.
Die Unionsregierung traf aber auch konkrete Schritte, um die Kontrolle über die aufsässige Republik zu behalten. Die Grenztruppen wurden angewiesen, mißliebige Ausländer nicht in die Republik zu lassen. Staatsanwälte und andere Funktionäre wurden entsandt, um die Durchsetzung sowjetischen Rechts zu gewährleisten.
Außerdem wurden zwei US-Diplomaten aus Vilnius ausgewiesen. Sie waren der „Einmischung“ beschuldigt worden. Die USA protestierten scharf.
In Estland erklärte unterdessen die KP auf ihrem Parteitag, sie wolle dem litauischen Beispiel folgen und sich bis Oktober von Moskau lösen. Sie hat 55 der 104 Sitze im Obersten Sowjet errungen. Zusammen mit den 46 Volksfront -Abgeordneten bildet sich somit eine separatistische Zwei -Drittel-Mehrheit.
Am Wochenende ernannte Präsident Gorbatschow zehn Mitglieder seines Präsidialrates. Politbüromitglieder Alexander Jakowlew und Außenminister Eduard Schewardnadse, aber auch der rechtsnationalistische Schriftsteller Valentin Rasputin und der „Sojus„-organisator Venjamin Jarin gehören dazu.
Die anderen Mitglieder sind Verteidigungsminister Jasow, KGB-Chef Krjutschkow, Planbehörden-Vprsitzender Masljukow, der Schriftsteller Aitmatow und andere.
D.J.
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