: Wohin treibt Gorbatschow?
■ 'Pravda‘ donnert gegen „destruktive Kräfte“
Berlin (taz) - Was ist los in der Sowjetunion? Diese Frage stellen sich jetzt immer mehr, seitdem die konservativen Kräfte in Moskau in der Litauen-Krise offenbar die Initiative übernommen haben. Dabei zeichnet sich ab, das Gorbatschow ihre Vorgehensweise nunmehr billigt, nachdem sein Verbalkrieg keine Ergebnisse brachte. Am Sonntagabend besetzten nämlich sowjetische Armeeeinheiten Gebäude der litauischen KP. Der Kommandierende der sowjetischen Truppen in Litauen, Walentin Warennikow, rief den Präsidenten Landsbergis an und sagte ihm, damit solle eine „Veränderung der Funktion“ der Gebäude verhindert werden. Landsbergis traf sich daraufhin mitten in der Nacht mit Vertretern der Streitkräfte, um herauszufinden, wer denn dafür verantwortlich sei. Danach erklärte der Präsident: „Es wird keinen Versuch geben, die Gebäude des Obersten Sowjets oder des Fernsehens zu besetzen“. Dies wäre nämlich eine „Katastrophe“ für Gorbatschow.
Am Montagmorgen wurde dann mitgeteilt, eine „Koordinierungsgruppe“ sei gebildet worden, um „Zusammenstöße zwischen dem Militär und der Bevölkerung zu verhindern“. Ob es diese Gruppe tatsächlich schon gibt, ist ungewiß. Die Sowjetarmee hat noch keinen Vertreter benannt. Litauen wird den stellvertretenden Regierungschef Romualdas Ozolas entsenden.
Aus Moskau verlautete während dieser ganzen Hektik kein Wort. Am Montagmorgen fuhr dann die 'Pravda‘ schweres Geschütz auf. Völlig unerwartet erschien ein alarmierender ungezeichneter Meinungsartikel, in dem die jüngsten Massendemonstrationen, auch die vom 25. Februar, als eine „Form der Legalisierung des Extremismus, die die Gesellschaft weiter ins Wanken bringen soll“, bezeichnet wurden. „Destruktive Kräfte“, denen es „um die Machtergreifung auf offen undemokratischem Wege“ gehe und auf deren Kundgebungen „das Streben, die Führung von Partei und Staat zu diskreditieren“ zutage träte, hätten „den Weg eines offenen, oppositionellen politischen Kampfes“ gewählt und spielten offenbar mit einem „tschechoslowakischen“, „deutschen“ oder sogar „rumänischen“ Szenarium. „Gesunde Kräfte“ forderten jetzt „entschlossene Handlungen im Rahmen des Gesetzes“. Der Staatspräsident werde „die vom Volk frei gewählte Gesellschaftsordnung entwickeln und schützen“.
Da Gorbatschow Ende 1989 die Pravda-Leitung in die Hände seines Vertrauten Iwan Frolow gelegt hat, ist zu vermuten, daß dies die neue Gorbatschow-Linie ist. Darauf deutet auch die Berufung von Konservativen in den neuen Präsidialrat hin. Am Sonntag und Montag wurden, zusätzlich zu den schon ernannten Mitgliedern, Innenminsiter Bakatin, Unionsratsvorsitzender Primakow, der Kiewer Parteichef Rebenko, der Leiter der Allgemeinen Abteilung im ZK, Boldin, und der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften, Ossipjan, in den Rat aufgenommen. Der Rat hat die Funktion, Maßnahmen zur Durchsetzung der Grundrichtungen der Politik und zur Sicherheit des Landes zu treffen.
D.J.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen