An Nagels Mittagstisch wird's eng!

■ Selbsthilfeinitiative »Plattengruppe« von Obdachlosen plant Kantinenbesetzung in Behörden/ Situation in Berlin eskaliert: Wärmestuben und Tagesstätten sind »wegen Überfüllung geschlossen«/ Wut auf Nagels Wohnungspolitik/ Stahmer hilflos

Charlottenburg. So mancher Wohnungsmieter und Baulöwe wird heute in Erinnerung an den 9. November 1989 feuchte Augen kriegen, die Berliner Obdachlosen dagegen packt die kalte Wut. Seit dem Fall der Mauer hat sich ihre Situation drastisch verschärft. Sie wollen nicht länger warten, bis ihre Forderung: »Für jeden eine Wohnung!« erfüllt wird. Die »Plattengruppe«, ein Zusammenschluß von ungefähr zwanzig Wohnungslosen, kündigte gestern bei einer offenen Gesprächsrunde in der Wärmestube »Seelingtreff« in Anwesenheit der Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) »vielschichtige Aktionen« — zum Beispiel die Besetzung von Rathauskantinen — an, um ihre Anliegen durchzusetzen. »Wir wollen ein Haus für Obdachlose«, wurde gestern mehrfach gefordert. Doch mehr als guten Willen und Hilflosigkeit konnte die SPD-Politikerin nicht bieten — schon gar keine Häuser. Sie verwies auf den zuständigen Bausenator Wolfgang Nagel (SPD). »Dann müssen wir eben eins besetzen«, ertönte es aus der »Plattengruppe«.

12- bis 15.000 Menschen sind allein im Westteil ohne Obdach. »Auf Platte«, also auf der Straße, leben ungefähr 4- bis 6.000 Menschen, aus Ost-Berlin sind die Zahlen nicht bekannt. Bei Kälte und Regen kommt es zu stundenlangen Wartezeiten, die Essensausgabestellen können die Hilfsbedürftigen nicht mehr ausreichend mit Essen versorgen.

»Dies ist sicherlich auch jahreszeitlich bedingt«, so Hans-Jürgen Otto von der »Plattengruppe«, »aber hauptsächlich ist das auf den Zustrom aus dem östlichen Stadtgebiet und den fünf neuen Bundesländern zurückzuführen.« Inzwischen kommt ein Drittel der Besucher von Anlauf- und Beratungsstellen aus Ost-Berlin. Dort gibt es bis jetzt nur »Ansätze« in der Obdachlosenbetreuung, wie ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle diplomatisch formulierte.

Die Arbeit im »Seelingtreff« gleicht mittlerweile einer Notstandsverwaltung: »Um 13 Uhr öffnen wir, um 13 Uhr 5 müssen wir wegen Überfüllung schließen.« Die Situation in den Notunterkünften und Pensionen ist ebenfalls erschreckend. Wohnungslose müssen sich zu acht ein Durchgangszimmer teilen, 40 bis 50 Personen eine Dusche. Aber solange man auf die Pensionen angewiesen sei, stellte der Charlottenburger Sozialreferent Bock fest, könne auch kein Druck auf sie ausgeübt werden, könnten keine Kriterien bestimmt werden. Auch Senatorin Stahmer konnte nur resigniert feststellen: »Bei den Pensionen hat sich überhaupt nichts gebessert.«

Ihrer Senatsverwaltung fehlten die Kompetenzen, um über die Vermeidung von Wohnungslosigkeit hinaus etwas zu tun. Gegen Bausenator Nagel richtet sich daher hauptsächlich die Kritk der Obdachlosen: Er lasse zuwenig Wohnungen bauen und verhindere, daß die Ämter Wohnungen im sozialen Wohnungsbau für Obdachlose belegen, was ihnen rechtlich möglich sei. Bislang hat Nagel dies jedoch als Einstieg in die »Wohnungszwangswirtschaft« und in »mehr Bürokratie« abgelehnt. Lakonischer Kommentar eines Obdachlosen: »Der Typ hat doch 'n Rad ab.« Thekla Dannenberg