: Keine Atempause, Geschichte wird gemacht!
„Wer zu spät kommt — Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution“, ARD, 20.15 Uhr „Novembertage — Stimmen und Wege“, RTL plus, 23.15 Uhr ■ Von Christof Boy
Während sich in Ungarn die Grenzen zur Massenflucht aus der DDR öffnen, thront Erich vor seinem Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und reißt einen Kalauer: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs' noch Esel auf.“ Mehr politischen Weitblick traut 'Spiegel‘-Reporter Cordt Schnibben dem greisen Staatschef nicht zu, weshalb er ihn in seiner Dokumentation zum Jahrestag der Maueröffnung als Volltrottel zeichnet. Noch angesichts der Massendemonstrationen in Leipzig debattiert die Führungsriege des Arbeiter- und Bauernstaates über einen Betrieb im Bezirk Potsdam, dessen Fahrradunterstellplatz ein völlig durchlöchertes Dach aufweist. Tausend Fahrräder stehen im Regen, Zehntausende demonstrieren in Leipzig. Das Politbüro schläft und steht dann selbst ohne Regenschirm da.
Wie schon Heinrich Breloer für seinen Badewannen-Ausrutscher Die Staatskanzlei zum Fall Barschel, bemüht auch Schnibben das Dokumentarspiel, um jene Thesen auf die Mattscheibe zu bringen, die er schon in der kürzlich erschienenen 'Spiegel‘-Serie über die letzten Tage des Politbüros ausgebreitet hatte. Dafür hat ihm die ARD Hochkarätiges gegönnt. Jürgen Flimm vom Thalia- Theater führt Regie in der zwitterhaften und kaum zu klassifizierenden Fernsehgattung, die sich schon von anderen Regisseuren nicht dazu zwingen ließ, sich als Theater, als Dokumentation oder gar als authentische Fiktion erkennen zu geben. Auch Hanns Joachim Friedrichs als Erzähler und Hans-Christian Blech in der Rolle des ersten Mannes im Staate haben da eher Mühe, über den Bruch zwischen den nachgestellten Szenen und den Originalbildern hinwegzuspielen.
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht — von Dummköpfen. Cordt Schnibben erklärt plausibel, wie weit die Verkalkung im Apparat und in den Köpfen fortgeschritten war. Also, ein Politbüro voller Narren, die in ihrer Agonie sogar beschließen, die Grenzen zu öffnen, und gar nicht so recht begreifen, daß sie damit den endgültigen Zerfall des Staates mitunterschrieben haben. Das genügt Schnibben, es gibt immer Dumme, mal dreiste, mal ahnungslose, mal ganz-, mal halbverblödete, und diesmal saßen sie im Schaltzentrum der Macht. So einfach ist das, und leider ist da auch etwas Wahres dran.
Doch diese Erkenntnis reicht Cort Schnibben nicht. Er will ein Kapitel Geschichte zuschlagen, bevor es richtig aufgeblättert wurde, und mit dem Siegel versehen — amtlich beglaubigt vom Autor höchstselbst. Schnibbens Anspruch der Ausschließlichkeit ist nicht nur anmaßend, er ist auch ermüdend, denn wer mag sich darüber belehren lassen, daß ein paar Wochen Aktenschnüffelei Geschichte fixieren — eine Art Schlußstrich schon nach einem Jahr.
Für sich genommen wäre die aufwendige Gedenkstunde der ARD eine vielleicht etwas zu ernst genommene Leichenfledderei der SED, die dennoch dem Anspruch gerecht wird, dem 9. November bisher unbekannte Einsichten abzugewinnen. Aber da gibt es noch einen zweiten Film, zeitversetzt auf einem anderen Kanal, der sich ebenfalls des vielleicht entscheidendsten Tages in der deutschen Nachkriegsgeschichte annimmt.
Niemand anderes als Marcel Ophüls nähert sich einem Deutschland, das sich nach seinem Film Hôtel Terminus über Klaus Barbie für ihn doch eigentlich immer noch als ein Land der Täter darstellen müßte. Doch Ophüls respektiert, nein, er begreift den 9. November als ein Geschenk der Freiheit und komponiert seinen Film als Hymne auf die Wiedervereinigung, die jedoch nicht als bloße Schwärmerei mißzuverstehen ist. Ophüls hat sich das Gespür fürs Wesentliche erhalten; auch Egon Krenz, Markus Wolf oder Stephan Hermlin entrinnen nicht seinen Fragen, die erst so harmlos naiv scheinen und sich dann als präzise und inquisitorisch entpuppen.
Aber faszinierender noch an diesem Film ist die Kunst des Abschweifens. Ophüls läßt sich von Heiner Müller lieber eine Anekdote über einen Parteisekretär unter Stalin erzählen, der seine eigene Frau auf der Todesliste entdeckt, als minutiös zu rekonstruieren, wie es nun genau zugegangen ist beim Fall der Mauer. Das ermöglicht ihm, über Widerstand unter Diktaturen und über wiedererwachten Neonazismuzs, über Mercedes Benz und über die Erotik der Revolution zu plaudern und dennoch mehr auszusagen als Cordt Schnibben mit seinem Hang zur Akribie.
In gewisser Weise ist auch November Days ein Fernsehspiel, wenn man schon in solchen Kategorien denkt. Während Schnibben das szenische Spiel nutzt, um das Dokumentarische noch authentischer erscheinen zu lassen, greift Ophüls zur Fiktion, um das Orignal zu karikieren. Er schneidet einfach Spielfilmausschnitte zwischen die Interviews — ein stempelnder Hauptmann von Köpenick gegen die Paßkontrollen, ein mordender Brutus gegen den Unschuldsengel Krenz. Kommentar und Provokation, Neugier erweckende Verknüpfungen, das ist es, was November Days zu einem unterhaltenden Film macht, der dennoch nicht im Feuilletonistischen steckenbleibt.
Als kleine Einschränkung bleibt auch bei Ophüls anzumerken, daß er, wie Schnibben, den westlichen Blick auf die — jetzt ehemalige — DDR konserviert. Beiden Filmen ist anzusehen, wie überrascht ihre Autoren von den Ereignissen waren. Ohne sich diese Überraschung eingestehen zu wollen, glauben beide, auf eine Analyse der Ursprünge verzichten zu können. Völlig ausgeblendet bleiben dabei die Bürgerbewegungen und ihre Angst vor dem Schießbefehl oder die Ahnung, daß die Mauer nur geöffnet wurde, um die Proteste zu kanalisieren. Das Volk einmal mehr in der Statistenrolle, nur noch geil auf Bananen und eine Freiheit, die sich in DeMark buchstabieren läßt. Wie gut nur, daß sich Kurt Masur an dieser Stelle verweigert: „Sie haben kein Recht zu fragen, Sie waren nicht hier und wollen nur Ihre Story.“ Das hält auch in Zukunft die Möglichkeit anderer Deutungen offen und eine Neugier, die sich nicht mit voreiligen Erklärungen zufrieden gibt.
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