GESICHTER DER GROSSSTADT
: Angst vor dem ehrlichen Herzen

■ Die Fremdenführerin Ines Plötz lebte mit den Hausbesetzern der Mainzer Straße unter einem Dach

Friedrichshain. Trotz der weit geöffneten Fenster roch es auch am vergangenen Wochenende in der neu eingerichteten Altbauwohnung noch nach Tränengas. »Der größte Triumph war das Abhängen der Gardinen«, erzählt Ines Plötz mit einem Lächeln — so als hätte der chemische Kampfstoff sie nicht erschrecken können. In den Vorhängen hatte sich das Reizgas am kräftigsten gehalten.

Die 54jährige selbständige Fremdenführerin hat zusammen mit ihrem Mann Klaus die Schlacht um die umkämpften Häuser in der Mainzer Straße in der ersten Reihe erlebt. Ihre Adresse: Mainzer Straße 1. Nachbarhaus Nummer 2 war das erste der zwölf besetzten Häuser, die am vergangenen Mittwoch mit einem massiven Polizeieinsatz geräumt wurden. Bis zu diesem Tag hatte sich von den Besetzern in ihrem Haus hauptsächlich ein Junge mit Zipfelmütze blicken lassen, den Ines Plötz liebevoll »den kleinen Trompeter« nennt, weil er immer Flugblätter verteilt hat. Der habe ein ehrliches Herz gehabt. Angst hatte sie nicht. Bis zum Bau der Barrikaden am Montag empfand sie die »schwarz-bunten Vögel« mit ihrem Infocafé und Antiquariat, die immer erst gegen 11 Uhr von ihren nächtlichen Ausflügen eingeschwebt seien, sogar als eine Bereicherung. Allerdings hätten die Besetzer die ganze Straße haben wollen. Wenn die mal die Musik zu laut gedreht hätten, hätte sie ihnen Bescheid gegeben, sagt die Frau aus dem dritten Stock entschlossen. Das gesamte halbe Jahr, während der Straßenzug besetzt war, hätte die 54jährige niemandem unter den Besetzern die schweren Angriffe auf Polizisten zugetraut. Erst als sie während der Schlacht um die Barrikaden ihre Wohnung lüften mußte, weil drei Tränengaskörper eine ihrer Scheiben durchschlagen hatten, traf sie »mordlüstige« Hausbesetzer auf dem Baugerüst an ihrer Hauswand. »Ich hab sie angeschrien, hört endlich auf, geht nach Hause.« Die hätten nur geantwortet: »Nur ein toter Bulle ist ein guter Bulle«. Diese Leute, vermutet sie, hätten auch Wochen vorher das Haus ausgekundschaftet. Denn wenn die Bauarbeiter nach Hause gegangen waren, seien öfter Unbekannte gekommen. Das habe sie mit der »simplen Methode des Fußbodenwischens« festgestellt.

Nach dieser Schlacht, während Vermummte massenweise Pflastersteine und Molotow-Cocktails von ihrem Dach warfen, flüchtete Frau Plötz nicht zu Verwandten. Zusammen mit ihrem 41jähriger Mann klemmte sie entschlossen Holzbretter zwischen die Doppelscheiben, füllte die Badewanne voller Wasser und stellte überall Wassereimer auf. Als der Kampf gegen die Räumung am Mittwoch morgen erneut tobte und die Steinewerfer aus den Fenstern über ihrer Wohnung eine rote Fahne hängten, wählte sie den Notruf 110. Doch niemand wußte, ob die anrückende Polizeimacht wissen würde, daß das ältere Paar im dritten Stock nicht zu den Besetzern zählt.

Ruhig schlafen kann sie nach der Schlacht nicht mehr. Inzwischen habe sie Angst bekommen, daß aus Rache auch ihr Haus angezündet werden könnte. Ein Flugblatt kündigte an: Bei Räumung brennt's. Dirk Wildt