: Die Heilige, die Mutter und die Kokotte
■ Die Berliner Kammeroper und Regisseurin Barbara Beyer zeigen Benjamin Brittens »Der Raub der Lukrezia« im Hebbel-Theater
Der Sarg ist abgestellt, die Gemeinde schreitet zur Trauermahlzeit. Eine blonde Frau kredenzt Sekt — aber noch bevor die Gäste ihre Gläser auf die Verstorbene heben können, schlägt ein Mann mit einer lapidaren Geste auf ihre Köpfe, so als spielte er Xylophon. Eilig und mit voyeuristischer Lust verkleidet das Paar die Ohnmächtigen in Römer: heute wollen sie »Lukrezia« sehen, die Geschichte der keuschen Römerin, die sich nach der Vergewaltigung durch den Prinzen umbringt. Zu ihnen gesellt sich das Publikum im Hebbel-Theater, wo seit Dienstag die Oper von Benjamin Britten in einer Inszenierung der Berliner Kammeroper auf dem Spielplan steht.
Die Männer erwachen und finden sich im Heerlager wieder. Sie saufen, spielen Karten und führen echte Männergespräche: über Frauen. Der kleine dicke Junius (Tilman Birschel) ist verzweifelt, weil er vor seinen Kameraden als gehörnter Ehemann dasteht. Immer wieder preßt er den Namen der Frau hervor, die ihrem Mann treu ist: »Lukrezia, ich hasse das Wort!« Angeheizt vom Erzähler (Edward Randall) macht Junius den Prinzen Tarquinius (Roman Trekel) ganz heiß auf Lukrezia. Pochend schwillt die Musik an, der dumpfe Herzschlag wird zum Pferdegetrappel, geil lechzend reitet Tarquinius nach Rom.
Auch die Frauen werden zunächst von den beiden Erzählern in ihre Rollen eingewiesen; gouvernantenhaft überwacht die Erzählerin, sehr schön gesungen und gespielt von der Sopranistin Maike Pansegrau, die Hausarbeit von Lukrezia (Rosemary Nencheck), ihrer Amme Bianca (Barbara Schramm) und der Dienerin Lucia (Regine Gebhardt). Britten hat die Frauenrollen aus typischer Männerperspektive angelegt: Die keusche Heilige, die Mutter und die Kokotte. Das Lob der Hausfrauenidylle schlägt durch die Überspanntheit der Gesten ins Ironisch-Groteske um; die terzenreiche Lieblichkeit des Gesangs wird von den 13 Musikern unter der sicheren Leitung von Brynmor Llewelyn Jones im Orchestergraben gebrochen.
Der zweite Akt beginnt mit einem Disput der beiden Erzähler über die Kultur der Etrusker und Römer. Die Erzählerin liest wie eine bildungsbürgerliche Reiseführerin über Musik, Kunst und Leidenschaft bei den Etruskern vor — »Trotz all der Kultur, die Römer haßten die Etrusker«, antwortet derb der Mann und geht mit einer Axt auf die Frau los. Kaum ist sie dem Mordanschlag entgangen, tanzen die beiden ein paar Schritte — nichts ist hier wirklich wichtig, alles ist Fassade und Spiel. Und jetzt wollen sie die Vergewaltigung sehen. Sensationsgierig bereiten sie die Bühne vor. Die Erzählerin streut Rosenblätter, löst ihren Dutt und räkelt sich auf dem Laken, während der Erzähler, begleitet von drei Trommeln und Becken, mit rhythmischer Sprechstimme über den durchs Haus schleichenden Prinzen berichtet, gierig mit dem Fernglas seine Partnerin beobachtend. Und dann läuft den beiden die Geschichte aus dem Ruder — denn obwohl Lukrezia zunächst abwehrend reagiert, ist ihre Stimme doch voll Leidenschaft. Das haben die Erzähler nicht vorgesehen. Um die Geschichte zu vollenden, greifen sie Tarquinius und Lukrezia, und mit zynischem Gesichtsausdruck stoßen sie ihre Becken gegeneinander. Der Regisseurin Barbara Beyer ist es durch diese Interpretation gelungen, den in der Musik vorgegebenen Männerblick, insbesondere in der Rolle Lukrezias, zu durchbrechen.
Jetzt läuft alles auf den Selbstmord und die Heiligsprechung Lukrezias hinaus: die Blumen, die die Dienerin und die Amme pflücken, wirken wie eine vorweggenommene Grabbereitung. Die Altistin Rosemary Nencheck schafft es sehr überzeugend, Lukrezia als gebrochene, fast wahnsinnige Frau darzustellen; sie hat ihre Melodie verloren, singt viele Takte nur noch auf einer Tonhöhe. Ihr Ehemann Collatinus (Johannes Schwärsky) kommt, aber schon beim Eintreten legt er seine Römerkleidung ab, verwandelt sich zurück in einen Gegenwartsmenschen. Das Spiel läuft ab, Lukrezia ersticht sich — aber es ist kein tragischer Tod. Lukrezia ist das Opfer, ausgemacht von Anfang an und von den Erzählern zum Idol so bestimmt. »Ihr Leben war an Gnade reich, nicht uns armen Menschen gleich«, singen Bianca und Lucia. Der Kreis schließt sich, als Trauergemeinde verlassen alle Spieler die Szene.
Im Nachspiel, von Britten als christliche Erlösungsversicherung intendiert, zeigen die Erzähler noch einmal die Entleertheit ihrer Werte: die Frau, zunächst ergriffen vom Tod Lukrezias, wird von ihrem Partner mit einem Goldkettchen über die Situation hinweggetröstet, und buchstäblich über eine Leiche gehend, verlassen auch sie die Bühne. Beyer ist es in einer interessanten Inszenierung gelungen, durch die Erzähler als Stellvertreter der Gegenwartsgesellschaft einen Zugang zu finden, der den im Grunde verstaubten Stoff aktuell macht. Annette Jensen
Nächste Vorstellungen: Heute, am 6. und 7. Juli, 20 Uhr, Hebbel-Theater
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