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VON JERUSALEM NACH BABYLON

■ Los Angeles: Megalopolis, Gigantopolis, die Vorstadt der Vorstadt, Utopie und Dystopie in einem - für EuropäerInnen schlicht die Antistadt

Los Angeles: Megalopolis, Gigantopolis, die Vorstadt der Vorstadt der Vorstadt, Utopie und Dystopie in einem — für EuropäerInnen schlicht die Antistadt.

VONREEDSTILLWATER

Die Magnolienblüten sind groß wie Salatköpfe, die Rasenflächen auf eine einheitliche Länge geschoren, so als sei die Länge der Halme städtebaulich festgelegt wie andernorts die Giebel- und Traufhöhe. Die Palmen an den Durchgangsstraßen überragen die Straßenlaternen und Telefonmasten, die Seitenstraßen sind von blaublühenden Jacaranda-Bäumen gesäumt. Die Boulevards und Avenidas tragen Namen wie Sepulveda, La Cienega, La Tijera, Crenshaw. Ortschaften heißen Malibu, Santa Monica, Manhattan, Redondo. Und das Ganze nennt sich „County of Los Angeles“ und bedeckt eine Fläche von der Größe Schleswig-Holsteins.

Nicht alle Teilstädte innerhalb des L.A. County gehören zur City of Los Angeles; dafür hört die Riesenagglomeration, die gemeinhin zum Greater Los Angeles gezählt wird, auch nicht an den County-Grenzen auf. Die Wucherung der Städte hat die angrenzenden Grafschaften Orange County und Ventura County überzogen. Orange County, in ganz Amerika Synonym für vorstädtischen Konservatismus, ist wie Los Angeles selbst eine einzige endlose Vorstadt, zu der es keine Zentralstadt, kein Zentrum gibt: die Vorstadt einer Vorstadt einer Vorstadt... Diese Megalopolis, eine Region, die auch Southland Empire genannt wird, ist im Begriff, sich in die Mojave-Wüste und ins Tal des Todes hinein auszubreiten. Eine Stadt ohne Ende.

Die Weißen wohnen — je nach Einkommen oder Lebensart — in den Strandstädten: Venice, Manhattan, Redondo, Hermosa. Arbeiter wohnen in Westchester. Die Schwulen leben in Westhollywood, die darbenden Künstler in Hollywood, die Erfolgreichen in Santa Monica. Die Schwarzen, je nach Einkommen, in Baldwin Hills, Inglewood, Culver City oder Watts. Die Hispanics, die größte Bevölkerungsgruppe, wohnen überall und konzentrieren sich, je nachdem, ob sie alteingesessene Mexikaner oder Mittel- und Südamerikaner sind, in South oder Central L.A. Die Koreaner wohnen in Korea Town, die Chinesen in China Town, die Japaner in Little Tokio, auch J-Town genannt, die Kambodschaner in Long Beach, die Vietnamesen in Orange County, die Armenier in Silver Lake, die Filipinos in Inglewood, die Perser in Westwood, die Juden in Fairfax, die Südseeinsulaner in Compton. Natürlich wohnen jeweils auch alle anderen Ethnien und Nationalitäten in allen Teilstädten und Stadtteilen.

Gewirr von Linien, Grenzen, Haarrissen

L.A. ist ein Gewirr von Linien, Grenzen und kaum sichtbaren Haarrissen, ein Puzzle, das hier noch zusammenhält, dort schon auseinanderfällt und das am Ende niemand mehr zusammensetzen können wird. Ethnisch ist Los Angeles die üppigste Stadt der Welt. In ihr hassen und meiden sich alle aber auch gegenseitig. Eine Stadt, in der man auf den Straßen und in den Shopping Centers fast nur junge und schöne Menschen findet: zierliche Chinesinnen, kleinwüchsige Filipinos und Vietnamesen, schwarzhaarige Hispanics, mandeläugige Perser, schlanke Inder. L.A. hat seinen eigenen Menschenschlag hervorgebracht, den multikulturellen körperbewußten, gut trainierten, auf Fitness und Outfit bedachten ewigen Jugendlichen. Doch auch der ebenso für Amerika so charakteristische Typus des unförmig Übergewichtigen hat seinen geographischen Raum: Die Korpulenz haust in den Stadtteilen der Armen. Selbst die Ghettos wirken paradiesisch, die Kriegszonen der Aufstände von Anfang Mai sehen aus wie Suburbia, städtischer Aufstand vor Vorstadt-Kulissen: kleine Einfamilienhäuser, gepflegte Rasen, Palmen, hinter denen Armut und Aggression lauern. Die Aufstände waren nötig, um die Risse in der Gesellschaft, die Abgründe, über die man in L.A. zu leichtfüßig hinweggegangen ist, sichtbar zu machen. Heute diskutiert man darüber, die Siedlungsstruktur zu überdenken. „Zusammenrücken“, „Ökologie“, die „Renaissance der Innenstädte“ sind einige der Slogans. Der Haken daran ist, daß L.A. kein Inneres, keinen Kern hat.

Aus dem Nichts gebaut, künstlich befruchtet

Los Angeles ist auf Wüste gebaut und könnte ohne subventioniertes Wasser und riesige Wasserbeschaffungsprogramme keinen Tag überleben. Wahrscheinlich ein Seitenhieb gegen den Umweltschutz, gegen jene, die kritisieren, daß die Verwandlung von Einöde in blühende Gärten weiter nichts als eine neue und noch ödere Wüstenei, eine Städtewüste, hervorgebracht hat. Viele sprechen voller Nostalgie über eine Welt, die es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat: die Welt der Pioniere, die in der Auseinandersetzung mit dem unwirtlichen Wilden Westen, ganz allein auf sich gestellt, ihr Glück machten. Die „Familienwerte“ sind weitere Surrogate, denen man nachtrauert, Welten, die es nie wieder geben wird, wie die der kleinen selbstgenügsamen „Gemeinschaft“ mit der Familie als Nukleus, einer Welt ohne Immigranten.

Amerika sollte nach den Vorstellungen der ersten Einwanderer, der sogenannten Pilgerväter, das neue Jerusalem werden: „The City on the Hill“. Die leuchtende Stadt auf dem Berg wurde Inbegriff und Emblem einer neuen Welt des Heils. Doch die Städte an der Ostküste, allen voran der Einwandererhafen New York, das Tor zur Neuen Welt, verwandelten sich unter dem Ansturm der Einwanderer aus aller Herren Länder in Höllen. Aus Jerusalem wurde Babylon. Eine neue Stadt mußte her. Sie entstand in Form von L.A. am anderen Ende des Kontinents. Die ideale Stadt sollte sie werden, ohne Verdichtung, ohne dunkle Gassen und Winkel, in denen das Elend hauste, eine Gartenstadt, in der jedes Haus ein Gärtchen sein eigen nennt. Hier sollten sich die WASPs, die White Anglo-Saxon Protestants, ansiedeln, frei und unbedrängt von dem ganzen elenden Auswurf Europas, den Juden, Polen, Iren, Italienern, die an Amerikas Küsten strandeten.

Was noch wichtiger war: In der neuen Stadt sollte es keine Gewerkschaften geben. Die Sozialgeschichte von Los Angeles kann als permanente Anstrengung der weißen Oberschicht geschrieben werden, die Gewerkschaftsbewegung zu unterdrücken. Arbeitskräfte wurden aus dem benachbarten Mexiko importiert und wieder abgeschoben. Wenn die Mexikaner nicht willig waren, wurden sie kurzerhand nacheinander durch Japaner, Filipinos, Chinesen und landlos gewordene weiße Farmer ersetzt.

Los Angeles ist eine auf dem Reißbrett geplante durch und durch künstliche Stadt; sie hatte keinen natürlichen Hafen, keine Rohstoffe, nicht einmal landwirtschaftlich nutzbaren Boden. Die Stadt „der Engel“ ist heute höher subventioniert, als es ihre Partnerstadt Berlin zu Zeiten des Kalten Krieges jemals war. Außer von der Medienindustrie lebt L.A. vor allem von der Luft- und Raumfahrtindustrie, also weitgehend von Aufträgen des Verteidigungsministeriums. Doch auch im Fernen Westen schlägt das Ende des Kalten Krieges neue Wunden. Heute sind die WASPs, für die L.A. exklusiv gebaut wurde, eine Minderheit in ihrer Stadt. Sie ziehen sich immer weiter zurück in die benachbarten Grafschaften und in die Wüste, wohin ihnen jedoch über kurz oder lang die neue Einwandererwelle aus Asien und Lateinamerika folgen wird. Alle amerikanischen Wege scheinen nach Babylon zu führen.

Eine Stadt spiegelt eine Gesellschaft wider

Der Widerspruch zwischen Neueinwanderern und Alteingesessenen, zwischen Jerusalem und Babylon, ist die sich immer wiederholende Geschichte Amerikas. Und er ist nicht auf den Widerspruch zwischen den weißen und den farbigen Rassen beschränkt. Auch der Protest der Schwarzen gegen den Strom der Einwanderer ist ebenso alt wie die Emanzipation der Sklaven selbst. Booker T. Washington, einer der frühen Wortführer schwarzer Emanzipation, hielt schon 1895 in Philadelphia eine Rede, in der er ein Gleichnis benutzte, das in Amerika heute fast jedes Kind kennt: „Seeleuten war auf offener See das Wasser ausgegangen, und sie waren verzweifelt. Doch dann kam einer auf die Idee, Wasser aus dem Meer zu schöpfen, und siehe da, das Schiff lag in der Mündung eines mächtigen Stroms, und es war Süßwasser, was sie förderten.“ So sei es auch mit den Schwarzen Amerikas, rief Booker T. Washington seinen Zuhörern zu: „Laßt eure Eimer hier herab und fördert die freigewordene schwarze Arbeitskraft, statt ständig neue Einwanderer ins Land zu holen.“

Brecht: Ein Symbol von Himmel und Hölle

„Die welthistorische Bedeutung und Besonderheit von Los Angeles liegt darin, daß die Stadt die Doppelrolle einer Utopie und einer Dystopie zugleich für den entwickelten Kapitalismus spielt“, schreibt Mike Davis in seinem 1990 erschienen Buch über Los Angeles: Die Stadt aus Quarz, Archäologie der Zukunft in Los Angeles. „Die gleiche Stadt symbolisiert, wie Brecht bemerkt, Himmel und Hölle. Los Angeles ist eine unabdingbare Station auf dem Weg eines jeden Intellektuellen im ausgehenden 20. Jahrhundert, und man wird nicht umhin können, sich dieser Stadt zu stellen und sich eine Meinung darüber zu bilden, ob Los Angeles ,alles zusammenbringt‘ (,brings it all together‘, wie der offizielle Slogan heißt) oder nicht eher ein Alptraum am Ende der amerikanischen Geschichte ist. Weit mehr als New York, Paris oder Tokio polarisiert L.A. die Diskussion: Los Angeles ist Gegenstand und Ort einer vehementen ideologischen Debatte.“

Es ist unmöglich, sich mit Los Angeles auseinanderzusetzen, ohne sich durch die Schichten von Mythologie zu graben. Los Angeles ist nicht nur das Medienzentrum der Welt; keine zweite Stadt ist derart mediatisiert und mythologisiert worden. Das ursprüngliche verklärte Bild der Muster- und Gartenstadt wurde bald von den Stadtbildern der Autoren der Schwarzen Serie wie Raymond Chandler und Dashiel Hammet überlagert. Alfred Döblin, der Autor von Berlin Alexanderplatz, bezeichnete Hollywood als eine Häuser-Wüstenei. Gefragt, ob ihm Weite und Offenheit dieser Gartenstadt nicht gefielen, antwortete er: „Bin ich denn eine Kuh?“

Emigranten wie Thomas Mann, Brecht, Adorno und Horkheimer maßen L.A. an ihren nostalgischen Berliner oder Wiener Erinnerungen und vermißten das, was deren Urbanität ausmachte: die Verdichtung, das Zentrum, die Cafés, die Zirkel. Deshalb zogen sie sich selbst in einen isolierten Zirkel zurück, über den sich Brecht mokierte: Die „Frankfurter Schule für Sozialforschung“ in Los Angeles käme ihm vor wie ein Seminar in einem Bunker. Doch auch Brecht strickte mit an der Mythologisierung von Los Angeles, als er sein berühmtes Gedicht schrieb, in dem er Shelleys metaphorische Gleichsetzung von London mit der Hölle aufgriff und Los Angeles eben diesen Rang zuwies. In Los Angeles schrieb Adorno seine Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben und zusammen mit Horkheimer die Dialektik der Aufklärung. Die in diesen Werken angelegte Kulturkritik reflektiert das Befremden der Autoren, ihre Hilflosigkeit gegenüber der Stadt Los Angeles. Darüber hinaus erklärten sie auch noch das, was sie sahen und erlebten, zum reinsten Ausdruck Amerikas, obwohl doch zu jener Zeit Los Angeles selbst dem restlichen Teil von Amerika ungefähr so fremd gegenüberstand wie ganz Amerika dem europäischen Kontinent.

Vor allem von Deutschland aus ist es schwer, nicht durch eine ideologisch gefärbte, von Kulturkritik angehauchte Brille auf Los Angeles und seine Mai-Aufstände zu schauen. Allzu leicht drängt sich das Bild auf, daß Los Angeles weiter nichts ist als die Stadtlandschaft gewordene Verkehrung des amerikanischen Traums zum Alptraum. Dabei wird übersehen, daß das Schicksal von Los Angeles stellvertretend das Schicksal einer Welt ist, in der ethnische und nationale Grenzen nie wieder das sein werden, was sie einmal waren. Los Angeles, das ist die zur Stadtlandschaft geronnene Völkerwanderung unserer Zeit, ist das Spiegelbild, in dem sich alle Großstädte dieser Welt einmal wiedererkennen werden.

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