: Das Mikro aus dem Fenster
■ Swell spielen heute abend auf der Insel
Wahrscheinlich erzeugen extreme Umstände nicht notwendigerweise extreme Musik, aber die Umstände beeinflussen die Musik in jedem Fall. Swell aus San Francisco drücken diese Beziehung des Musikanten zu seinem Lebensraum ganz bewußt aus und nehmen sie in ihrer Musik zum Thema. Sie beziehen sich sowohl textlich als auch musikalisch auf Tenderloin, den Stadtteil, in dem sie leben, weil es billig ist. Tenderloin ist eine Abrißgegend, in der »die Leute auf den Straßen sterben«, der Swell Lieder widmen, die Titel tragen wie »Suicide Machine« und über die sie Zeilen singen wie »Here is a town / For you to be forgotten / For you to be passed over«.
Das, was sie hauptsächlich reflektieren, lassen sie auch in die Töne mit einfließen. Aufgenommen wird in der eigenen Wohnung, dabei hängt auch schon mal ein Mikro aus dem Fenster, das den Straßenlärm als Hintergrundfolie einfängt. Diese Alltagsgeräusche werden eben nicht gesamplet, was rein ergebnistechnisch keinen Unterschied machen würde, was aber — wenn man es weiß — eine Authentizität schafft, die den Aufnahmen eine Wirkung über die Musik selbst hinaus verleiht. Diese Authentizität ist den vier Herren über die Maßen wichtig, denn eigentlich ist ihre Musik ein Rückzug auf die eigenen vier Wände. Indem sie das Mikro aus dem Fenster hängen, holen sie die Außenwelt nicht nur symbolisch in ihre kleinen, vor sich hindämmernden, wie manisch um sich selbst kreiselnden Songs, sondern brechen auch tatsächlich die Isolation des Musikers auf, schaffen Raum für die öffentlichen Themen, die ihnen wichtiger sind und über die sie in Interviews wütend parlieren.
Selten auch war ein Bandname passender gewählt. Da wechselt die Gitarre, langsam, aber sicher anschwellend, vom folkigen Terrain auf bratzendes, baut sich bedrohlich auf und bricht dann plötzlich zusammen, nur um sofort wieder dasselbe Spiel zu beginnen. Das Schlagzeug ist bei aller momentanen Vertracktheit doch immer monoton und klingt eben, wie im Wohnzimmer aufgenommen: dumpf und ohne Tiefe. Trotz fehlender avancierter Studiotechnik vermißt man nichts an Swell, dieser Sound ist einmalig, und man wünscht ihm keinen Produzenten. Man könnte es auch psychedelisch nennen, wenn das Wort nicht soviel mit Drogen zu tun hätte und wenn David Freel, Sänger und Gitarrist, das nicht vehement ablehnen würde: »Ich glaube nicht, daß wir psychedelische Momente haben. Psychedelisch meint für mich, die Haltung der Leute zu verändern. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, haben wir nichts mit Psychedelik zu tun. Die frühen Pink-Floyd-Sachen, denen würde ich so eine Wirkung zusprechen, die haben was bewegt und verändert.«
Überhaupt Pink Floyd. Diese gibt Freel als einzigen möglichen Einfluß — und das auch nur im Geiste — an. Und offensichtlich haben Swell auch nichts mit dem oberflächlichen, artsy Stilverständnis der Engländer zu tun. Da sind sie ganz Amerikaner, ganz bodenständig, sehr den sie umgebenden Klängen verhaftet. Eben nicht nur dem Straßenlärm, sondern auch der klassischen Rock-Gitarre, dem klassischen Rock-Rhythmus. Aber trotzdem klingen Swell so eigen, wie man es von einer Rockband nur erwarten kann.
Wer sonst gerne zu spät kommt, um die Vorgruppe zu verpassen, sollte diesmal vielleicht seine Gewohnheit ändern. 18th Dye sind der neueste Silberstreif in der trüben Berliner Rocksuppe. Fast völlig auf der Höhe der Zeit entfachen 18th Dye einen Höllenlärm wie von Sonic Youth, ohne sich deren Gags und Brechungen hinzugeben. Hier werden die Gitarren angeschlagen, um zu testen, was rauskommt. Thomas Winkler
Heute um 22 Uhr auf der Insel,
Alt-Treptow 6, Treptow
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