: Lauter Fragen, wie Bytes auf einer rotierenden Festplatte
■ Das Kunst- und Netzwerk „The Thing“: Damit die Mailbox kein Selbstzweck mehr sein muß
Bislang waren elektronische Mailboxen das Ding von ausgesprochenen Technofreaks. Nicht von solchen, die Techno hören, sondern von solchen, die einst Perry Rhodan lasen und nun übergewichtig (Bewegungsmangel) mit bärtigen Pickelgesichtern (zuviel Süßigkeiten) tagein tagaus am Schirm hängen, um sich irgendwo „einzuloggen“.
Der private Datenaustausch hat im wesentlichen den Zweck, sich von irgendwoher irgendwelche Programme zu besorgen, mit denen man den Datenaustausch effektiver gestalten kann. Dieser hübsche Selbstzweck kulminiert am Ende in einer absoluten Rückkopplung, als deren Ergebnis ein perfekter Datenaustausch mit seiner Abwesenheit zusammenfällt, da nur die Apparate und nicht deren Benutzer sich verständigen. „The Thing“, ein in Köln und New York initiiertes Kunst-Netzwerk- Projekt, versucht aus dieser Selbstzweck-Falle herauszukommen. Und zwar durch die Kombination verschiedener Ansätze. „The Thing“ steht täglich in Verbindung mit der NY-Basisbox, so daß ein kontinuierlicher Strom neuer Informationen aus dem Bereich Kunst und Theorie gewährleistet ist. Diese Woche geht eine Station in Düsseldorf ans Netz, die nach dem gleichen Prinzip täglich von der Kölner Station Daten bezieht. Leipzig, Hamburg, Paris, Karlsruhe und London folgen, so daß der Info-Austausch für überregional Interessierte kein telefoneinheitenintensives Eliteprojekt bleibt.
„The Thing“ ist eine elektrische Zeitung, die aus „Leserbriefen“ besteht, die jeweils wieder weitere Textbeiträge provozieren. Die glatte, geschliffene und auch „sinnzensierte“ Sprache des Feuilletons soll aufgebrochen und verformt werden. Muß aber nicht. Meldung und Rückmeldung verklammern sich so zu einem interaktiven Textgebilde. Eine „digitale Speakers Corner“, in der es durchaus möglich ist, daß die Zuhörer auch mal den Speaker beschimpfen. „Thing“-intern gibt es zudem schon mehrere Elektro-Affairen; das Problem einer digitalen Scheidung ist (bislang) noch nicht aufgetreten. Das ganze ist bei Leibe nicht nur virtuell; war der Austausch okay, dann fährt man schon mal nach Köln oder Hamburg.
Im Gegensatz zur konzeptarmen, technizistischen „Piazza Virtuale“ im Rahmen der dokumenta ist „The Thing“ reduktionistisch. Es geht um die Sache, nicht um eine selbstbezogene Faszination an sterilem Techno-Pop. Angeschlossen sind daher auch normale Printmedien wie Spex, Texte zur Kunst und Symptome. „The Thing“ ist insofern mehr als eine Art alternative Nachrichtenagentur. „The Thing“ ist unter anderem ein Planungsbüro für spezielle Projekte, die in diesem Forum sehr viel intensiver diskutiert werden können, als wenn man sich nur Briefe schriebe. Im Gegensatz zum Telefonat kann man hinterher alles nachlesen. Die Kommunikation ist weniger privat als öffentlich. Was einige professionelle Kunstkritiker davon abhält, ihr „symbolisches Kapital“ in einem kollektiven Austausch zu verschleudern.
Die Frage, ob die in kurzer Zeit angesammelten Texte am Ende gar ein sich selbst kommentierendes (Kunst?-)Werk ergeben, stachelt zur weiteren Rede an... Hieraus ergibt sich der nächste Grundgedanke: Insofern moderne Kunst entweder Design (also Kunsthandwerk) oder ausschließlich von der Interpretation abhängig ist (Woody Allen hat das verarscht)– wenn also Kunst immer durch Reden legitimiert werden muß, warum läßt man die Kunst dann nicht gleich ganz weg und beschränkt sich gleich aufs Reden: „The Thing“. Geplant ist eine literaturwissenschaftliche und/oder psychoanalytische Supervision dieses fröhlichen Sprachteppichs. Was besonders beim sogenannten „On-Line-Chat“ interessant sein dürfte. Buchstaben beginnen zu leben, vertippen und verbessern sich – live. Der System Operator – in Köln ist es Michael Krome – ist eine Mischung aus (virtuellem) Moderator, Schiedsrichter, Theoretiker, System-Designer, Archivar, Publizist, Impresario, Mitspieler und Modem-Verkäufer. Der bei „The Thing“ angestrebte interdisziplinäre Diskurs zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft basiert stark auf einem Interesse an Teamwork oder kollektiver Textur. Zentraler Gedanke ist es, in einer Welt, in der man mit Bildern vollgeknallt wird, zur Sprache zurückzukommen.
Ausgelotet werden soll das Potential des Computers als neuem Informationskanal. Welches sind hier seine Vor- und Nachteile? Kann man überhaupt von einer Sprachkultur zwischen Schrift und Stimme reden? Wird es gelingen, die traditionellen Gegensätze zwischen Produzent und Rezensent, Praktiker und Theoretiker einander anzunähern? Wird der FC Köln absteigen? Lauter Fragen, wie Bytes auf einer rotierenden Festplatte. Manfred Riepe
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