Größenwahn mit Tradition

Vom Bauerndorf zum Biotop: Hamburgs Senatoren wollen Altenwerder seit Beginn des Jahrhunderts den Garaus machen /  ■ Eine Chronik

Schon Mitte des 12. Jahrhunderts war Altenwerder besiedelt. Das Dorf lag damals auf einer Insel im weitverzweigten Stromgebiet der Elbe, einem sogenannten Werder. Der fruchtbare Marschboden und der Fischreichtum des Flusses boten Bauern und Fischern eine gute Existenzgrundlage. Sie bauten Obst an und betrieben Grünlandwirtschaft, dazu kam das Handwerk rund um die Schiffahrt.

Im Hamburger Senat gab es seit Beginn des Jahrhunderts die Idee, den Hafen im Süderelberaum zu erweitern, die Stadt hatte schon damals ein Auge auf das Fischerdorf an der Süderelbe geworfen. Mit ihrem Groß-Hamburg-Gesetz, das anordnete, Hamburg sei als „Tor

1zur Welt“ — ohne Rücksicht auf die Nachbarn — großzügig auszubauen, verleibten sich die Nazis 1937 dann nicht nur das bis dato eigenständige Altona, sondern auch zahlreiche umliegende Dörfer, darunter Altenwerder, ein.

Der Hafen schluckt das Umland

Nach dem zweiten Weltkrieg erließen die Hamburger Senatoren — ganz im Geiste ihrer Vorgänger — das Hafenerweiterungsgesetz, im Volksmund „Hafenermächtigungsgesetz“ genannt. Dieses erlaubte der Stadtregierung, die Dörfer Altenwerder und Moorburg 1961 zum Hafengebiet zu erklären.

1Ernst wurde die Bedrohung für Altenwerder, als 1973 Senat und Bürgerschaft einstimmig die endgültige Räumung des Dorfes beschlossen. Hunderte von Häusern wurden über mehrere Jahre verteilt abgerissen, bis Ende der 70er Jahre fast alle 2000 Bewohner umgesiedelt. Gleich zu Beginn regte sich heftiger Widerstand. Neu und ungewöhnlich war die Koalition der Elbfischer und Dorfbevölkerung mit den als „linke Chaoten“ verschrienen Bürgerinitiativen. Die Auseinandersetzung um Altenwerder war einer der Hauptgründe für das Entstehen der GAL, damals noch Bunte Liste. Zur „Galionsfigur“ im Kampf gegen Industrialisierung und Verschmutzung der Elbe und die Zerstörung seines Heimatdorfes wurde der streitbare Fischer Heinz Oestman. Er und seine Mitstreiter gerieten vor allem mit dem damaligen Wirtschaftssenator aneinander. Helmut Kern legte 1976 einen Plan vor, wonach der gesamte Raum südlich der Elbe vom Hafen geschluckt werden und zu einem gigantischen Industriepark mutieren sollte.

Das erste „Altenwerder Fischerfest“ fand 1978 statt. Bis 1985 kamen jeden Sommer große Scharen zum Protestfest nach Altenwerder. Die Plattdeutsch-Rocker „Torfrock“ spielten auf und Oestmann räucherte köstliche Schollen. Aber jedes Jahr standen weniger Häuser. Noch im vergangenen Jahr wurde ein Fachwerkbau abgerissen.

Da die Hafenerweiterung offen-

1bar nicht so dringend war, wie damals von Seiten des Senats behauptet, blieb das gesamte Gebiet bis heute mehr oder weniger sich selbst überlassen. Nach der Vertreibung der meisten Dorfbewohner haben sich Tiere und Pflanzen im Schatten der Industrieanlagen breitgemacht. Sie finden dort ein wahres Eldorado von unterschiedlichen ökologischen Nischen.

An und in den Entwässerungsgräben tummeln sich Libellen, Frösche und Fische wie Flußbarsch, Hecht und Brasse. Im Gras zwischen den verwilderten Obstbäumen tummeln sich Insekten. Gras-, See- und Wasserfrösche laichen in den Teichen, die für die Entnahme von Kleie für den Deichbau ausge-

1baggert wurden. Vögel wie Säbelschnäbler und Austernfischer haben sich das Gebiet erobert. Im Röhricht und auf den Wiesen brüten 61 vom Aussterben bedrohte Vogelarten. Außerdem wachsen in Altenwerder über 400 Pflanzenarten, davon sind 71 vom Aussterben bedroht.

Diese Dichte von bedrohten Tier- und Pflanzenarten ist bemerkenswert. Es würde ein Lebensraum zerstört, „dessen Vielfalt der Biotopstruktur und Biotopfunktionen in dieser Ausprägung, räumlichen Verknüpfung und funktionalen Ergänzung im übrigen Süderelbebereich beziehungsweise in der Elbniederung nicht mehr vorhanden ist“, schreibt die Planungsgruppe

1Ökologie und Umwelt in ihrem aktuellen Umweltverträglichkeitsgutachten zur geplanten Hafenerweiterung.

Wer sich mit eigenen Augen vor Ort davon überzeugen möchte, daß Altenwerder lebt, kann an einem kundig geführten Spaziergang teilnehmen. Der Förderkreis „Rettet die Elbe“ veranstaltet alle vierzehn Tage mit Hafenfähre und Bus Ausflüge vom Hafenrand ins Alte Land. Die nächsten Termine sind die Sonntage 31. Januar, 14. Februar, 28. Februar, 14. März, 28. März. Treffpunkt um 12 Uhr vor dem Zugang zur Brücke 1 der Landungsbrücken, Ende ca. 15.30 Uhr am Bahnhof Altona, Teilnehmerbeitrag 5 Mark. Vera Stadie