„Kämpfen, damit man über die Juden anders dachte“

■ Bremer Gedankveranstaltung zum Warschauer-Ghetto-Aufstand: „Ausgelöscht wären die Namen erst, wenn sie vergessen wären“

Überraschung, Verwirrung, Bedenken standen auf den Gesichtern der BremerInnen, die am Mittwoch abend zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor 50 Jahren ins Rathaus gekommen waren: Der abschließende Vortrag von Arnold Mostowicz, Überlebender des Lodzer Ghettos, hatte ganz und gar quer gelegen zu den Erwartungen, die viele der rund 400 Gäste sich vorher gemacht hatten.

Eine kurze, eindringliche Rede des grünen Abgeordneten Hermann Kuhn für die VeranstalterInnen hatte den Abend eröffnet: „Daß Sie bereit waren, zu uns zu kommen, hierher in das Land der Täter, ist alles andere als selbstverständlich.“ Ihm war wichtig: „Indem wir uns des verzweifelten Kampfes einer kleiner Gruppe Jüdinnen und Juden erinnern, gedenken wir der Unschuldigen und Wehrlosen, die nicht kämpfen konnten und wollten, als sie den Tod durch deutsche Hände fanden.“

Kurz und eindrücklich war das Grußwort von Bürgermeister Klaus Wedemeier zu diesem 19. April, „an dem sich zum 50. Mal ein Tag deutscher Schande jährt“. Wedemeier zeichnete einen Ghetto-Tag von vielen nach: 200 Kinder des jüdischen Waisenhauses marschieren zum Bahnhof, „in Vierer-Reihen, sie sind sauber gekleidet“, werden mit ihrem Leiter Goldzmit in Waggons getrieben, nach Treblinka, direkt in die Gaskammer. Goldzmit war freiwillig mitgekommen. Eins seiner Bücher, veröffentlicht unter dem Pseudonym Janusz Korczak, heißt: „Wie man ein Kind lieben soll.“ Am Schluß des bürgermeisterlichen Grußworts eine Hoffnung, eine Richtung vielleicht: „Ich bin befreundet mit Lily und Senek Maor, die heute in Haifa leben. Lily kam von Auschwitz in das Lager Stuhr, um in Bremen Zwangsarbeit zu leisten. Senek hat das Warschauer Ghetto und Auschwitz überlebt.“

Miryam Shomrat, Gesandte der israelischen Botschaft, konnte sich als „Enkelgeneration“ genau erinnern, daß im Israel ihrer Kinderzeit ganz selbstverständlich „alle Menschen diese Nummern auf dem Arm hatten“. Alle Kinder und Enkel in Israel hätten dieses Trauma unweigerlich mitbekommen - für die jungen Generationen in Deutschland gelte das sicher nicht. „Aber wir haben eine gemeinsame Vergangenheit und Zukunft und müsssen es schaffen, ohne Schuldzuweisung, aber verantwortungsvoll damit umzugehen. Danke, daß Sie diese Veranstaltung machen.“ Ruhe statt Beifall gab es für die Gedenkreden, Applaus nur für den Cellisten Ramon Jaffe, der Bach und Blochs Hebräische Rhapsodie spielte; ein Cello fast wie ein Schrei nach Hilfe.

„Ich werde mich etwas von dem Hauptthema dieses Abends entfernen“, hatte Arnold Mostowicz einleitend angekündigt. Der fast 80jährige, der im Ghetto Lodz als Arzt gearbeitet hatte, las seinen Vortrag angespannt eindringlich, voller Konzentration, fast ohne Luft zu holen: diesen Beitrag hier und jetzt und vor diesem Publikum halten zu können, das war ihm sehr wichtig. „Ich spreche hier als polnischer Jude, als Schiffbrüchiger, als Überlebender eines ermordeten Volkes.“ Mostowicz hat nach Lodz Auschwitz überlebt und verschiedene Arbeitslager, „das gibt mir das Recht, über die Schlußfolgerungen zu sprechen, die mir die Erfahrungen meines Lebens diktieren“. Mostowicz stellte den Holocaust in eine jahrhundertelange Reihe der Völkermorde und Massaker, er erinnerte an den „ersten Holocaust vor 500 Jahren“, als die Indianer gemetzelt wurden, an die ermordeten Armenier, an die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen, die Opfer des Stalinismus und der Roten Khmer, auch an die Morde in Bosnien.

Als Erklärung wollte Mostowicz sich nicht mit religiösen, nationalen, ethnischen, rassistischen Faktoren zufriedengeben; auch „die Produktionsverhältnisse oder das gesellschaftliches Sein bestimmen das Bewußtsein sicherlich auch, aber nicht nur“. Die Überraschung: ausgerechnet bei Konrad Lorenz hatte Mostowicz schließlich Erklärungen für die überzeitliche Aggression des Menschen gefunden: Wie in jedem Tier lebe im Menschen ein unausrottbarer „Aggressionstrieb“ — noch gesteigert durch stets „wachsende Ansiedlungsdichte“. Daß Lorenz ein Reizwort sein würde, war Mostowicz sehr klar: „Lorez-ich weiß — ich habe ihm vor Jahren selbst den reaktionären Charakter seiner Schriften vorgeworden.“

Zwei Namen wollte Mostowicz dem bremischen Publikum nicht ersparen. Wie ideologische Systeme und propagandistische Methoden wirken könnten, zeigte er am Beispiel der beiden „tüchtigen, zuverlässigen Kaufleute aus Bremen“: Der „Organisator und Henker des Lodzer Ghettos war Hans Biebow, ein Kaufmann aus Bremen. Genauso tüchtig war Toebbens, der die Sklavenarbeit der Ghettojuden für seine Textilproduktion nutzte.“

Im Warschauer Ghetto Foto: Stroop-Bericht, Luchterhand-Verlag, SL 171

Ein anderer provokativer Teil seines Vortrags befaßte sich mit dem alten und aktuellen polnischen Antisemitismus. Mostowicz selbst ist übrigens 1968 als Chefredakteur einer großen Warschauer Satirezeitschrift entlassen worden — im Rahmen der antijüdischen Kampagne der kommunistischen Regierung. Der Antisemitismus in seinem Land sei so tief verwurzelt im polnischen Katholizismus, daß er auch in einem Land fast ohne Juden weiterleben könne: „Die bösartigste antisemitische Presse genoß die Unterstützung des Klerus“ — auch wenn der andererseits eine Grundlage für den polnischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit gewesen war. Pater Maximilian Kolbe, in Deutschland verehrt als ein Gegner der Nazis, sei einer von den katholischen Priestern gewesen, die den „haßerfüllten hystrischen Antisemitismus“ gepflegt hätten, „diese historische Wahrheit kann auch sein späterer heldenhafter Tod in Auschwitz nicht ungeschehen machen.“

Der Antisemitismus ist für Mostowicz keine Frage ferner Welten, sondern Überlebensfrage für die nur noch winzige Gemeinschaft der überlebenden polnischen Juden. Als Gründungsvorsitzender der Vereinigung jüdischer Kämpfer und Verfolgter des zweiten Weltkriegs in Polen ist er bis heute mit den noch lebenden Opfern und ihren Kämpfen um „Entschädigung“ konfrontiert. Der Schluß seiner Rede machte deutlich, was Mostowicz so eindringlich, so gehetzt wirken ließ: „Die Perspektive für dieses Judentum in Polen ist beängstigend. Wurde es nicht zum Aussterben verurteilt? Unsere Antwort kann nur der fromme Wunsch sein, daß es nicht wie ein Grablicht auf dem Grabe des ermordeten Volkes erlischt.“

Raul Hilberg, Historiker und international renommierter Verfasser des Standardwerks über „Die Vernichtung der europäischen Juden“, sprach als Chronist der Mordmaschine — über die Menschen. Er sprach auf die Minute und ohne eine einzige Zeile schriftliches Manuskript, und er, der in alle Untiefen der Erinnerung an das Grauen hinabstieg, nannte akribisch Name nach Name, Opfer, Täter, wußte genau Tag und Stunde. Hilberg entwarf ein genaues Bild vom Ghetto, von den Deportationen in den Tod von Treblinka, davon, wie am Ende nur noch die Kinder und Alten übrigblieben, ohne familiäre Verantwortung, die sich dann nicht kampflos dem unausweichlichen Schicksal ergaben: „Das war eine Revolte der Jugend, nachdem die traditionellen jüdischen Führer versagt hatten“, und zum ersten und einzigen Mal in seiner Rede wurde Hilbergs Stimme schneidend, ganz so als wolle er dem Wort „Versagen“ noch einmal kompromißlosen Nachdruck verleihen: Nie wieder wehrlos.

Im Juli 1942 befand sich im Ghetto eine einzige Pistole. Das war die ganze Bewaffnung: „Jagen war kein jüdischer Sport.“ Mühselig war es, dem polnischen Widerstand Waffen abzuhandeln, abzukaufen. Erst als im Ghetto die ersten Schüsse auf die Deutschen fielen, begannen die polnischen Widerständler, die Juden ernst zu nehmen. Die Kämpfer selbst mußten zuerst die eigenen Leute vom Sinn des Aufstandes überzeugen. Das dauerte — bis nur noch sehr wenige übriggeblieben waren.

Ein Aufstand der Jugend: Mordechaj Anielewicz, Seele und Anführer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, war gerade 24 Jahre alt, als am 19. April 1943 die deutschen Truppen ins Ghetto einmarschierten, und die jüdischen Frauen und Männer

aus den Widerstandgruppen begannen, sich zur Wehr zu setzen. Mordechaj Anielewicz war gerade 24 Jahre alt, als er am 8. Mai 1943 Selbstmord beging, gemeinsam mit den meisten Kommandanten. Danach dauerte es noch weitere acht Tage, in denen die jüdischen KämpferInnen verzweifelten und erbitterten Widerstand leisteten, bis die deutschen Einheiten Vollzug nach Berlin melden konnten. Da war das Ghetto schon fast dem Erdboden gleich.

Die Strategie der Aufständischen war ganz einfach, sagte Hilberg: „Es gab keinen Ausweg. 60.000 konnten sich nicht unter der polnischen Bevölkerung oder in den Wäldern verstecken. Also kämpfen, so lange es geht.“ Seit dem zweiten Jahrhundert hatte es keinen offenen bewaffneten jüdischen Widerstand gegen irgendeine Staatsgewalt gegeben. Das sollte anders werden, „damit man über die Juden anders dachte“. Kurz vor seinem Selbstmord schrieb Anielewicz einen kleinen Brief: Er hoffe, daß sich schon in der weiteren Umgebung von Warschau der Aufstand herumgesprochen habe. Hilberg: „Er ahnte nicht, daß 50 Jahre später in Europa, Amerika und Israel seine Taten gefeiert würden.“

„Die jüdische Katastrophe hat zwei Symbole“, faßte Hilberg zusammen, „das eine heißt Auschwitz, wo mehr Juden umkamen als irgendwo sonst. Das zweite heißt Warschauer Ghetto.“ Es gelte, der Toten zu gedenken, „weil sie aus dieser Katastrophe einen Wendedpunkt schaffen wollten, und der heißt Israel, die jüdische Würde, und daß jüdisches Blut ohne Widerstand so leicht nie mehr vergossen wird. Diese Würde ist eine kleine Flamme, die noch brennt, die in der Endlösung ausgelöscht werden sollte.“ S.P./J.G.