: Der Blick von den Rändern
Streifzüge zu literarischen Schauplätzen im Süden Neuseelands ■ Von Robert Zimmer
Von Tawhariko laufe ich am Strand zweihundert Meter nordwärts, klettere über die vom Meer ausgewaschenen Steine des kleinen Landvorsprungs, den die Einheimischen Tawhariko Point nennen. Ich stehe wieder vor einer kleinen Bucht, gesäumt von einem Dutzend baches, den typischen kleinen Holzhäusern in Neuseeland, die häufig als Feriendomizil benutzt werden.
Dies ist Elderslee, eine kleine Siedlung, die in die Weltliteratur eingegangen ist. Sie ist eine der Schauplätze in Keri Hulmes preisgekröntem Roman „The Bone People“ („Unter dem Tagmond“). Ein abgelegener, vom Wind und den Gezeiten des Meeres beherrschter Ort, an dem die Menschen auf ihr Innenleben und die Stimmen der Natur verwiesen sind. Ein Ort dröhnender Stille. „Ein Ort, der zum Schlafen am Tag einlädt“ wird er auch in Hulmes Roman genannt – es ist die Übersetzung des Maori-Ortsnamens „Moeraki“, der über mehrere Hügel und Buchten verstreuten Ortschaft, zu der Elderslee gehört. Moeraki liegt etwa fünfzig Kilometer nördlich von Dunedin an der Ostküste der neuseeländischen Südinsel. Einer von vielen in seiner Isolation typischen literarischen Schauplätze im Süden Neuseelands, von denen aus neuseeländische AutorInnen einen sezierenden Blick auf das Innenleben ihrer Gesellschaft geworfen haben.
Neuseeland wird jedes Jahr von einer wachsenden Zahl von Touristen aufgesucht, doch die literarische Landschaft des Landes scheint bisher unentdeckt. Zu Unrecht, denn das Land der Kiwis hat eine blühende, lebendige und experimentelle literarische Kultur, die besonders von den USA und den polynesischen Kulturen des Südpazifiks beeinflußt wird.
Sie hat zwei große zeitgenössische Autorinnen hervorgebracht, Janet Frame und Keri Hulme. Die Südinselprovinzen Canterbury, Westland und vor allem Otago liefern den lokalen Rahmen vieler Romane und Erzählungen Frames und Hulmes. Die südlichste Provinz Otago spielt dabei eine besondere Rolle: sie ist geprägt durch schottisch-presbyterianische Siedler, die ein calvinistisch gefärbtes Mittelklassenmilieu hervorgebracht haben, das Minderheiten, Nonkonformisten und sozial Schwache aussondert und an die Ränder abdrängt. Frame und Hulme blicken auf diese Gesellschaft von eben diesen Rändern her – im lokalen wie im gesellschaftlichen Sinn.
Jede Reise in den Süden Neuseelands beginnt beinahe zwangsläufig in Christchurch, der größten Stadt der Südinsel. Vor Jahren noch ein verschlafenes Landstädtchen, durch das die Farmer der Region gemütlich mit ihren Pick-ups tuckerten, hat Christchurch in Folge der gesellschaftlichen Umbrüche des letzten Jahrzehnts einen hektischen Boom erlebt. Das amerikanische, japanische und australische Kapital hat der Stadt eine gestylte Skyline aus Glas und Beton sowie einen aufgeblähten Dienstleistungssektor beschert, der zunehmend von der japanischen Tourismusindustrie beherrscht wird. Immer schon ließen sich die Entwicklungen der Stadt exemplarisch an ihrem zentralen Platz ablesen, dem Cathedral Square. Der Platz entstand als Ort der Repräsentation englischer Kolonialarchitektur mit dem ehemaligen Gouverneursgebäude (heute Postamt) und der neugotischen Kathedrale. Er war lokaler Anlaufpunkt für die anglikanisch geprägte Provinzbevölkerung und wurde seit den sechziger Jahren zum Treffpunkt der Jugendkultur. Heute ist er vor allem ein Tummelplatz für Touristen.
Keri Hulme, Jahrgang 1947, ist in Christchurch geboren. Eine ihrer besten Kurzgeschichten, „Kaibutsu-San“ (aus ihrem Erzählband „Te Kaihau – The Windeater“ („Der Windesser“) erzählt einen halb realistischen, halb phantastischen Vorfall „Freitagabend auf dem Square“. Es ist die Geschichte eines modernen Seelenverkaufs. Zwei Einheimische lassen sich mit einem japanischen Touristen auf ein Kartenspiel ein und verlieren schließlich alles. Der Japaner, der sich als zeitgenössischer Mephistopheles entpuppt, verlangt als Preis, daß sich die beiden von seiner mysteriösen Kamera ablichten lassen – ein Akt, dessen Resultat die Aufgabe der Persönlichkeit ist. Hulmes bitterböse Persiflage thematisiert fast prophetisch das, was viele Bewohner von Christchurch heute als Problem empfinden: den Identitätsverlust der Kiwis angesichts der Invasion japanischen Kapitals.
Oamaru, 180 Kilometer südlich von Christchurch in der Provinz Otago gelegen, ist die Stadt, in der die 1924 geborene Janet Frame mehrere Jahre ihrer Kindheit verbracht hat. Die alte Walfangstation, die in Frames Werken „Waimaru“ heißt, wirbt mit ihren viktorianischen Kalksteinbauten und den seltenen gelbäugigen Pinguinen, deren Brutstätten in einer kleinen Bucht geschützt werden. Die Stadt, so schreibt Frame in ihrem ersten Roman „Owls Do Cry“ („Eulen schreien in der Nacht“), „war so klein wie die Welt und lag genau auf halbem Wege zwischen dem Südpol und dem Äquator, auf dem 45. Breitengrad“.
Oamuru ist mit seinen 13.000 Einwohnern ein typisches Kleinstädtchen in Neuseeland. Die Einheimischen bleiben meist unter sich, und wenn die Straßen- und Eisenbahnverbindung Christchurch–Dunedin nicht durch die Stadt führen würde, käme wohl kaum ein Tourist in diesen Ort.
An einem Freitagabend finde ich die Stadt ausgestorben. Ich habe gerade noch Glück, in der Kneipe „The Last Post“ zu landen. Deprimierend regelmäßig zweigen die Nebenstraßen in der Innenstadt rechtwinklig von der breiten Hauptstraße ab. Eine davon ist Eden Street. Hier wohnte die Familie Frame während der Weltwirtschaftskrise. Tankstellen und Gebetshallen protestantischer Freikirchen stehen heute zwischen den Wohnhäusern. Es ist kein Zufall, wenn eines der in „Owls Do Cry“ erwähnten Kinos heute die „Pentecoastal Church“ beherbergt. Oamaru atmet Konformismus: nirgends habe ich so viele Verbotsschilder gesehen. In der Küche des Campingplatzes darf kein Alkohol getrunken werden, und im Rathaus müssen Kinderwagen draußen bleiben.
Janet Frame schildert in ihren frühen Romanen das Leben einer Eisenbahnerfamilie in Waimaru/ Oamaru in den dreißiger Jahren aus der Sicht sensibler Kinder, die sich aus der bedrückenden Kleinstadtenge in die Welt der Imagination flüchten. Anhänglich an diesen Ort hat sich Frame nur in der Literatur gezeigt. Ihre Protagonistinnen entziehen sich oder stimmen offene Klage an, so wie Chicks in „Owls Do Cry“: „Aber Waimaru! Die tote Stadt, in der niemand lächelt und alte Frauen über dich tratschen, wenn du ein Suntop oder einen Bikini trägst.“
Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Konformismus und psychischer Repression ist vertraut, doch das Leben Janet Frames ist davon besonders nachhaltig beeinflußt worden. Aufgrund einer Fehldiagnose hat sie als junge Frau mehrere Jahre in der psychiatrischen Anstalt von Seacliff verbracht, vom Leben ausgesperrt und gequält von der damals häufig praktizierten Elektroschocktherapie. Diese Erfahrungen durchziehen ihr gesamtes literarisches Werk. Die eindringlichste Schilderung dieser Zeit findet sich in ihrem zweiten Roman, „Faces in the Water“. Das Buch ist eine in der Weltliteratur einzigartige Mischung zwischen realem Erlebnisbericht und fiktiver Reise in eine vergewaltigte Psyche. Seacliff, im Buch „Cliffhaven“ genannt, liegt an einer abgelegenen Küstenstraße zwanzig Kilometer nördlich von Dunedin. Frame beschreibt die „winzige, von Gras überzogene Ortschaft Cliffhaven mit ihrer Schule, ihrer Kirche und ihren zwei Geschäften, dazu weiter unten an der Straße hinter dem Haus des Arztes der Bahnhof“ aus ihren Erlebnissen der vierziger und fünfziger Jahre.
Seacliff hat sich in den letzten vierzig Jahren nicht viel verändert. Ich folge der Russell Road, die sich nach Westen den Hügel hinaufzieht. Nach zwei Kilometern komme ich zur ehemaligen Anstalt Seacliff. Das Gelände ist abgeschlossen und verlassen. Gerade wird es zu einem Verkehrsmuseum umgebaut. Die Holzbaracken mit ihren vergitterten Fenstern, unterbrochen von einzelnen Steinhäusern, in denen Ärzte wohnten, haben den makabren Charme eines Internierungslagers – ein Ort schleichenden Grauens.
Moeraki, zwischen Oamaru und Seacliff gelegen, ist für Keri Hulme Kinderland, Erinnerungsland. Kerwin Holmes, Hulmes Alter ego in „The Bone People“, empfindet die Reise nach Moerangi, wie der Ort im Buch heißt, als Heimkehr: „Eine breite Bucht, so breit, daß die Hügel im Norden purpurn und dunstverhangen in der Spätnachmittagssonne stehen. Es gab da eine kleine Ortschaft, bestehend aus ein paar verstreuten Häusern und Hütten, dazu eine Ansammlung von Fischerbooten und ein Geschäft, die das Ganze zusammenhielten.“.
Der zweite zentrale Schauplatz des Romans liegt an der Westküste der Südinsel, kurz Coast genannt. Diese am dünnsten besiedelte Region Neuseelands, ein schmaler Landstreifen zwischen den neuseeländischen Südalpen und der Tasman Sea, gilt als mega-outback, als Refugium für schräge Vögel. Hulme wohnt seit Jahren in einem selbstgebauten Haus in Okarito, das dem „Turm“ der Kerwin Holmes nicht zufällig ähnelt. Okarito, in „The Bone People“ „Taiaroa“ genannt, hat gerade mal dreizehn Einwohner, eine Ein- Raum-Jugendherberge mit acht Betten und einen von den Ortsbewohnern selbst hergerichteten Campingplatz. Alles andere ist aus der ehemals blühenden Goldgräberstadt verschwunden.
Okarito hat sich ein historisches Flair durch einen phallusförmigen Obelisken geschaffen, der an die „Entdeckung“ Neuseelands durch den holländischen Kapitän Abel Tasman im 17. Jahrhundert erinnert. Wie die meisten literarischen Schauplätze im Süden Neuseelands ist es ein abgewandter, auf sich selbst verwiesener Ort, beherrscht von der Präsenz des Meeres. Mit ihrer Schöpferin Keri Hulme teilt auch Kerwin Holmes die Vorliebe für lange Spaziergänge an diesem Ort der Peripherie: „Es gibt hier einen langen, verlassenen Strand, mein Stück Busch und flüsternde Bestände fremder Bäume. Eine Mündung. Überall um mich herum Meer, nachts Wellen, und mein Refugium.“ Ein Ort in einer noch zu begehenden literarischen Landschaft.
Janet Frame: „Eulen schreien in der Nacht“ (Bibliothek Suhrkamp), „Leben auf dem Maniototo“ (Bibliothek Suhrkamp)
Keri Hulme: „Unter dem Tagmond“ (Fischer-Taschenbuch), „Te Kaihau – Der Windesser“, (Fischer-Taschenbuch)
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