: Hintergründiges für den Hintergrund
■ Die Grafiken der "Tagesthemen" lohnen, den Blick von Ulrich Wickert und Sabine Christiansen abzuwenden
Mit Volldampf nimmt der Zerstörer „Hamburg“ Kurs auf die Bildmitte. Sein Kiel durchpflügt ein kleines blaues Heft, auf dessen Unterseite der Bundesadler und der Schriftzug „Grundgesetz“ zu erkennen sind. Dies ist einer der visuellen Kommentare zum Tagesgeschehen, die rechts neben den „Tagesthemen“-Moderatoren Ulrich Wickert und Sabine Christiansen ins Bild rücken. Häufig genug in der Qualität einer Zeitungskarikatur.
Seit etwa vier Jahren bemüht sich ein Grafiker-Team um den Leiter der „ARD-Aktuell Grafik“, Horst Ruppel, das Erscheinungsbild der „Tagesthemen“ aufzulockern. Monica Krüger (47) und Michael Rüdiger (44) wechseln sich alle 14 Tage als „Designer vom Dienst“ ab. Sie sind verantwortlich für Bilder, die zwischen Ernst, Ironie und Eindringlichkeit changieren und dabei dennoch viel zu oft der Aufmerksamkeit der Zuschauer entgehen. „Ich werde oft selbst von Freunden gefragt, was machst du da eigentlich bei den ,Tagesthemen‘“, sagt Michael Rüdiger.
Doch das Hauptproblem des Teams ist ein anderes: „Die Grafik darf nicht zu sehr den Inhalt vorwegnehmen“, sagt Monica Krüger. Und doch können die Bilder manchmal einzeln für sich stehen, wie etwa das vom Jäger 90, der die Kostenschallmauer – symbolisiert durch einen 1.000-DM-Schein – durchbricht. Andere Bilder bedürfen dagegen der intensiveren Entschlüsselung. Etwa dort, wo die Heftzwecken vor den Ketten eines jugoslawischen Panzers die untaugliche Ausrüstung der bosnischen Verteidiger von Sarajevo ausdrücken sollen.
Zentrales Element der „Tagesthemen“-Grafiken ist der Fotorealismus. Horst Ruppel hat ganz bewußt auf diesen Stil gesetzt: „Karikaturen sollen es nicht sein, um keinen bestimmten zeichnerischen Stil hervorzuheben. Die Inhalte sollen wirken, und mit dem fotorealistischen Stil können auch verschiedene Grafiker bei dieser Arbeit eingesetzt werden.“
Die Grafiker arbeiten an einer sogenannten „Paintbox“, einem Grafikcomputer, der elektronisches Bildmaterial aus den Fernsehfilmen ebenso zur Ausgangsbasis nehmen kann wie per Scanner eingelesene Fotos, unter eine Studiokamera gelegte Requisiten oder Computergrafiken. Der Designer vom Dienst nimmt an der täglichen Redaktionskonferenz um 11 Uhr in der „Tagesthemen“-Redaktion teil und ist so über den Stand der Planung in der Redaktion im Bilde.
Zum Beispiel das Thema „Trabis müssen '93 zum TÜV“, das kurz vor dem Jahreswechsel aktuell wurde. Dazu hat Michael Rüdiger sofort eine Idee. Er läßt sich aus dem Fotoarchiv einige Fotos von Trabis kommen und besorgt sich Bilder von einer TÜV-Plakette. Per Scanner werden die Motive in die „Paintbox“ eingelesen. Den auf der Vorlage grauen Trabi färbt Michael Rüdiger in taubenblau ein. Ein Assistent hat inzwischen in Erfahrung gebracht, daß die '93er Plaketten gelb sind.
In stundenlanger Kleinarbeit werden nun Plakette und Trabi in realistische Proportionen zueinander gebracht. Bestimmte grafische Elemente, die in der „Paintbox“ abgespeichert sind – in diesem Falle splitternde Plastikteile – werden einkopiert und farblich angepaßt. Zunächst bekommt die Rückseite der Plakette noch eine dunkelgraue Färbung, doch das erscheint dem Grafiker dann nicht als realistisch: „Die Plakettenfolie sieht von hinten bestimmt auch gelb aus!“ Und das bedeutet weitere 45 Minuten Feinarbeit.
Am fertigen Bild hat Michael Rüdiger etwa dreieinhalb Stunden gesessen. Dann ist Zeit für eine Kaffeepause. Inzwischen ist es 17 Uhr, und die Redaktion erwartet noch eine weitere Illustration. Thema: Die Wachstumserwartungen der Wirtschaft für das Jahr 1993. Der Mann an der „Paintbox“ hat auch hierfür schnell einen Einfall: eine rote Bilanzkurve, die nach stetigem Anstieg plötzlich abfällt und als Fragezeichen endet. Michael Rüdiger weiß selbst nicht, wie er es immer wieder schafft, ein Thema grafisch witzig umzusetzen und das zu oft drei, in Extremfällen auch vier unterschiedlichen Anlässen am Tag: „Systematisieren läßt sich das nicht. Aber manchmal, da habe ich schon über lange Zeit eine grafische Idee und warte nur auf das Thema.“ So geschehen im Fall des traurig blickenden Klapperstorchs mit leerem Tragetuch. Zwar hatte sich der Grafiker diese Idee eigentlich für einen Film unter dem Motto „Die Deutschen sterben aus“ zurechtgelegt, aber das Thema „Nachfrage nach künstlicher Befruchtung“ bot genausogut einen Anlaß. Und was einmal auf der Archivdiskette der Grafikabteilung abgespeichert ist, läßt sich schließlich auch bei späteren Anlässen noch einmal verwenden.
Auch Monica Krüger sagt von sich, daß sie kein Patentrezept dafür hat, den täglichen kreativen Schub herauszukitzeln. „Spontane Ideen sind meist das beste.“ Über die Leistung der beiden Designer vom Dienst sagt Chef Horst Ruppel: „Das hat schon bald die Qualität einer ,Stern‘-Titelseite. Nur dort arbeiten zehn Leute gleich eine ganze Woche daran.“
In der „Tagesthemen“-Redaktion werden die Grafiken auch immer beliebter. Moderatorin Sabine Christiansen: „Auch wenn diese Bilder im Hintergrund stehen, haben sie oft etwas sehr Hintergründiges an sich. Das mag ich an der Arbeit der Kollegen“, erklärt sie und greift auf einen Stapel mit Grafiken. Mit sichtlichem Spaß läßt sie die einzelnen Bilder noch mal Revue passieren und erzählt zu dem ein oder anderen etwas zum Hintergrund, zu der Nachricht des jeweiligen Tages oder zu den Zusammenhängen, in denen die Grafik entstand. Die kommentierenden Elemente der Bilder stören sie nicht: „Im Zweifel kann ich ja auch noch mein Veto einlegen.“ Doch dazu ist es bis jetzt noch nie gekommen.
Und dann erwähnt sie einen besonderen Gag, der allerdings selbst dem regelmäßigsten „Tagesthemen“-Zuschauer kaum aufgefallen sein dürfte. Anläßlich des letzten Staatsbesuchs der englischen Königin kommentierte Michael Rüdiger das Ereignis auf seine Weise. Für jeden Bericht änderte er das Wappen der Queen leicht ab: Täglich erschien ein anderer Pillbox-Hut im Lorbeerkranz.
Oft aber ist die Arbeit auch umsonst, weil sich im Laufe eines Tages die Nachrichtenlage überschlägt. Ein Flugzeugabsturz oder ein plötzlicher Ministerrücktritt kann eine schon realisierte Grafik ad hoc überflüssig machen. „Ein hektischer Tag in der Redaktion ist für uns eher ein ruhiger Tag“, sagt Horst Ruppel. „Da will keiner Grafiken sehen.“
Wer nicht jeden Abend Zeit hat, sich die ganzen „Tagesthemen“ in Erwartung der eingestreuten Perlen des Grafiker-Teams anzusehen, für den ein kleiner Tip: Im „Tagesthemen-Telegramm“ gegen 21 Uhr gibt's die Arbeiten von Monica Krüger und Michael Rüdiger als Kompaktpaket. Jürgen Bischoff
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