Der zerstörte Traum des verratenen Visionärs

■ Bis zuletzt klammerte sich Alija Izetbegović, der Präsident Bosnien-Herzegowinas, an die Schimäre vom Sieg der Vernunft – und übersah die Kraft nationaler Leidenschaften

„Wir sind in derselben Situation wie die Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg“ – dieses bittere und verzweifelte Resümee zog Alija Izetbegović im März 1993, als er dem Vance-Owen-Plan seine Zustimmung gab. Er tat es, obwohl er wußte, daß der Friedensplan keinen dauerhaften Frieden bringen würde. Er tat es im Vertrauen darauf, daß die EG, die KSZE, die Nato und die Vereinigten Staaten wenigstens den letzten Fetzen der staatlichen Einheit Bosnien-Herzegowinas retten würden. Noch immer klammerte er sich an die Schimäre vom Sieg interessengeleiteter Vernunft, wenn nur einen Augenblick lang dem Gemetzel Einhalt geboten würde: „Wenn wir erst einmal Frieden haben, werden die ethnischen und nationalen Aspekte wieder eine geringere Rolle spielen. Auf allen Seiten werden nüchterne wirtschaftliche Interessen wieder das Denken und Handeln bestimmen.“

Ein Irrtum, wie wir wissen. Ökonomische Kalküle versagen gegenüber den aufgeputschten nationalen Leidenschaften, und das nicht erst seit den Bürgerkriegen unserer Tage. Ein Irrtum, wie auch Alija Izetbegović felsenfester Glaube, Bosnien-Herzegowina als multiethnischen, multikulturellen Bürger-Staat aus dem Inferno retten zu können.

Ein Irrtum, für den auch heute noch in Tuzla und Zenica gekämpft wird, wo, mit einer Standhaftigkeit ohnegleichen, die bosnisch-muslimischen, kroatischen und serbischen Bürger an den gemeinsamen staatlichen und geselllschaftlichen Einrichtungen festhalten. Izetbegović hat sein Land auf die bewaffnete Aggression erst der Serben, dann der Kroaten nicht vorbereitet. Er glaubte daran, daß das jugoslawische Militär in Bosnien dazu zu bewegen sein würde, den Willen der Mehrheit zu achten, jenen Willen, der auf den Friedensdemonstationen und Festen des Jahres 1991 in Sarajevo einen so überwältigenden Ausdruck gefunden hatte.

Mittlerweile hat sich Izetbegović' Vergleich zwischen München 1938 und Sarajevo 1993 bis in die Details der diplomatischen Routine bestätigt. Wie der Tscheche Eduard Benesch wird er, der demokratisch gewählte Repräsentant ganz Bosnien-Herzegowinas als Komparse hin und hergeschoben, ohne Anspruch auf einen Rest von Würde und Anstand. Selbst Helmut Kohl darf sich im Fernsehen an ihm vergreifen. Wenn überhaupt, wird ihm noch zugestanden, für eine der Bürgerkriegsparteien die Stimme zu erheben, auf gleicher Ebene und mit gleichem Recht wie die Usurpatoren und Kriegsverbrecher Karadzić und Boban – aber bitte nicht zu laut. „Hört auf, die Moslems zu bejammern“, ermahnte schon zu Jahresanfang der Pressesprecher Lord Owens die versammelten Journalisten. Überflüssiger Hinweis. Denn die tränenreichen Reportagen über Mord und Vertreibung vertrugen sich bestens mit dem Zynismus, der nach dem Scheitern des Vance-Owens-Plans zur Anerkennung der zugegebenermaßen grausamen Realitäten aufforderte.

Es geht nicht nur darum, einen Mann zu bedauern, der töricht genug war, den feierlichen Versicherungen der demokratischen Staaten des Westens Glauben zu schenken, nicht nur darum, den Verrat der westlichen Staatsleute an den vorgeblich gemeinsamen Idealen anzuprangern. Auf 1938 folgte der September 1939. „Ihr wolltet den Frieden bewahren, aber ihr werdet Krieg ernten und die Schande.“ (Winston Churchill). Wie die westlichen Staaten sich zu dem Lebensrecht der bosnischen Muslime verhalten, hat paradigmatische Bedeutung für die künftige Koexistenz von Christentum und Islam in Europa. Alija Izetbegović' Glaubensbekenntnis war tolerant, unmissionarisch, auf langfristige Zusammenarbeit mit den anderen Konfessionen hin angelegt. „Wenn es Allah gefallen hätte“, sagte einer der ihm verbundenen Hodschas, „hätte er alle Menschen auf einen Schlag zu Moslems gemacht.“

Die theologische Hochschule in Sarajevo sollte zur Ausbildungsstädte mit Ausstrahlungskraft für die moslemischen Gemeinden des westlichen Europa werden. Läßt sich diese Vision jetzt noch aufrechterhalten, nachdem die Moscheen in die Luft gesprengt, Hodschas ans Kreuz geschlagen und den Moslemen bedeutet wird, sie hätten im katholischen wie im serbisch-orthodoxen Teil von Bosnien-Herzegowina keine Existenzberechtigung mehr? Die westlichen Staaten haben einen Staat zugrunde gehen lassen, der wie kein anderer als Experimentierfeld für ein neues, jenseits der christlich- abendländischen Ideologie gelegenes europäisches Einverständnis hätte dienen können. Sie werden am eigenen Leib die Folgen zu spüren bekommen, wenn niemand mehr den Namen des unglücklichen, machtlosen, standhaften Alija Izetbegović weiß. Christian Semler