Vereinigung im Flug

Auf dem Militärflugplatz der General-Wever-Kaserne im westfälischen Rheine werden aus NVA-Kampffliegern Bundeswehrpiloten gemacht  ■ Von Henning Pawel

Militärflugplatz Rheine in Westfalen. „General-Wever-Kaserne“.

Wer General Wever war? „Der erste Luftwaffenstabschef der Wehrmacht“, erklärt Oberst Wolfgang Kornrad, 49, Geschwaderkommodore und ausersehen, ein Experiment zu realisieren, an dem fast alle Bereiche dieser deutschen Gesellschaft bisher gescheitert sind – der Vereinigung. Im Geschwader des Kommodore findet die „Umschulung ehemaliger NVA-Piloten auf Maschinen der Bundeswehr“ statt. Der Oberst teilt den Sachverhalt gelassen mit. Den Zivilisten und Ossis aber mutet die ganze Szenerie, drei Jahre nach der Wende, noch immer unglaublich an. Die am Himmel donnernden Phantoms, in denen nun nicht mehr nur sportlich lässige Bilderbuchmänner ihren mit Amerikanismen reich benetzten bayerischen, westfälischen, ostfriesischen Slang von sich geben. Nun klingt auch die Amtssprache des realen Sozialismus sächsisch-guttural am Himmel über Westfalen.

Je nach geographischem und politischem Standort erscheint solches immer noch wie ein böses oder gutes Märchen, das natürlich auch mit folgenden Worten beginnt: „Es waren einmal ... zwei Armeen. Die Nationale Volksarmee, die Bundeswehr. Die Nationale Volksarmee sagte stets zu ihren Soldaten: „Ich stamme, wie mein Name schon sagt, aus dem Volk, bin sein heldenhaftes Herz und werde den Klassenfeind vernichtend schlagen.“

Manche Soldaten glaubten solches, viele nicht. Sie absolvierten ihren Dienst. Freilich rissen sie dabei Witze über jene Widersprüche, die selbst dem schlichtesten Zivilistengemüt ins Auge fielen. Der veraltete Fahrzeugpark, der groteske Benzinmangel, das 200 Jahre alte, preußische Reglement, die Phrasen der Politoffiziere, die albernen Ausgangs- und Urlaubsbeschränkungen.

Jedesmal, wenn die Alarmglocken schrillten, rannten die Soldaten zwecks Herstellung der Gefechtsbereitschaft irgendwohin. Dabei wurde lange Jahre jener Witz gerissen, der ein echtes Omen war. „Eines Tages gibt es einen Alarm“, scherzten die Volksarmisten, „wir werden noch nicht mal richtig in den Unterhosen sein, da steht die Bundeswehr am Kasernentor und bietet Kaugummi an.“

Und eines Tages stand die andere deutsche Armee wirklich am NVA-Kasernentor. Vielleicht mit Kaugummi, doch ohne einen Schuß. Und die Volksarmee, im Felde unbesiegt, aber wie schon so oft in der deutschen Geschichte, diesmal zwar nicht mit Dolchstoß, aber durch Sprechchöre und Wrigley's Bubblegum zu Fall gebracht, öffnete ihre Tore und ließ den Klassengegner ein.

„Kameraden Volksarmisten“, sagte dieser, „wir sind jetzt nur noch eine deutsche Armee. Und was das Volk vereint hat, darf alle Ideologie nun nicht mehr trennen.“

„So soll es sein, Genossen Imperialisten“, sagten die Volksarmisten gerührt. „Laßt uns fürderhin gemeinsam marschieren.“ So geschah's. Ein Staat und eine Armee. Die freilich besteht nur noch aus wenigen Volksarmisten. Nicht ein einziger General mehr, kein Obrist und Oberstleutnant. Ja selbst die NVA-Majore sind in der neuen alten Bundeswehr so rar wie im Rhein die Delphine. Nur Hauptmanns- und Leutnantsränge, sowie Teile des alten Unteroffizierskorps, wenn sie denn die unzähligen Überprüfungs- und Eignungshürden überwinden können. Deren Schwierigkeiten aber sind größer als alle Eskaladierwände und Kriechhindernisse auf dem bekannten Truppenübungsplatz Großborn und den schuf bekanntlich Gott in seinem größten Zorn.

Dennoch, die Vereinigung der Truppen marschiert. Sie hat sogar Flügel bekommen. Eine MIG-29- Staffel wurde auf dem Flugplatz Preschen bei Cottbus komplett auf Nato-Standard umgerüstet und schützt nun mit alten Piloten in neuen Uniformen so zuverlässig wie einst den Luftraum Ost.

13 Flieger haben es in Preschen geschafft. 500 Piloten für Kampfmaschinen gab es einst in der DDR. Etwa 26 sind noch zu finden in der Bundeswehr. Die anderen wurden gegauckt, gingen freiwillig, entsprachen nicht den neuen technischen, logistischen und sonstigen Ansprüchen. Die jungen NVA- Männer in Rheine aber müssen es noch schaffen. Nun schon im zweiten Jahr läuft ihre Umschulung.

Hauptmann Philipp, 32, Fluglehrer aus Bayern, besteigt mit einem Ex-NVA-Piloten die Phantom. Nicht ohne ihn vorher eindrucksvoll zu unterweisen und auf all die Dinge vorzubereiten, die während jeder der 15.000-DM- Flugstunden auf die beiden oben warten. Es wimmelt nur so in der Ansprache von Last Chances, von hochgestellten Daumen, Wetterorientierungen und Verhaltensregeln, „wenn's amol klemmt“, auf die eventuelle Notlandung bei der Nato, irgendwo in der Nähe. Der Flugschüler ist gleichaltrig und Sachse ist er auch. Sein aufmerksames „okay“ hört sich wie „Tokaier“ an, ohne T.

Wo liegt der Sinn des Unternehmens? Jeder Umschüler kostet den Steuerzahler Millionen. Gleichzeitig werden ganze Geschwader geschlossen und zahlreiche altgediente Bundeswehrpiloten nach Hause geschickt.

Der Kommodore: „Es hat natürlich Diskussionen bei uns gegeben nach jenem 2. Oktober 1990, wie viele drüben, scheinbar problemlos, die alte NVA-Uniform auszogen und Schlag 24 Uhr unsere an. Da sind zwangsläufig Fragen aufgekommen nach Rückgrat und Charakter. Aber das sind subjektive Dinge, die in meiner Beurteilung jedenfalls keine Rolle spielen. Ich glaube wohl, daß es wert ist, diese Piloten zu integrieren, ihnen eine Chance zu geben und damit gleichzeitig einen Beitrag zum inneren Frieden zu leisten. Das Verhältnis zu ihren neuen Kameraden? Wird zunehmend entkrampft. Man kennt sich allmähllich besser, ist imstande, die Vorurteile abzubauen. Nein, die soziale Herkunft spielt keine Rolle. Wir haben in der Bundesluftwaffe alle Gruppen vertreten. Vom Großunternehmersohn bis zum Arbeiter. Ich stamme aus bürgerlichem Hause, mein Vater war Politiker, einer der Berliner FDP- Bürgermeister unter Reuter.“

Hauptmann Stefan Rädel, 29, Ex-NVA-Pilot: „Von heute auf morgen habe ich nicht die Uniform gewechselt. Es war genug Zeit zum Nachdenken. Begonnen hat eigentlich alles bei mir mit dem 4. November 1989. Ich sah fassungslos im Fernsehen die Demonstration in Berlin. Für mich war die Welt bis zu diesem Zeitpunkt in Ordnung. Ich komme aus Dresden, dem Tal der Ahnungslosen, weder Westrundfunk noch -fernsehen. Auch in der Armee waren Westsender bis zuletzt streng verboten. Beide Eltern waren Arbeiter und in der SED. Und für mich war es ein logischer Schluß, ebenfalls einzutreten.

Ich fragte meine Frau an jenem Abend: ,Was wollen die Leute in Berlin eigentlich?‘ Am Tag darauf wurde meine Tochter geboren. In die Bundeswehr bin ich aus den gleichen Gründen gegangen wie zur NVA, um zu fliegen. Nur deshalb habe ich mich zu diesem Entschluß durchgerungen. Ich habe nichts anderes gelernt. Außerdem kommt jetzt auch zunehmend neben der Liebe zum Fliegen das Bewußtsein, daß die Armee noch immer gebraucht wird und ich ebenfalls. Ich kann hier etwas für mein Vaterland tun. Mit dem Grundgesetz habe ich mich eingehend beschäftigt und viel begriffen. Und zur Gesamtlage: Niemand soll glauben, daß wir sicher sind. Die Geschichten aus dem Balkan und mit den Altkommunisten in Moskau sind viel gefährlicher, als mancher denkt. Ich bin noch immer gerne Soldat und hoffe auf eine Zukunft bei der Bundeswehr. Ablehnung bei den Kameraden? Habe ich kaum gespürt. Sicher, wir waren der STG, der Sonderlehrgang Taktische Grundausbildung Alpha-Jet, unser Spitzname aber war Stasi-TG. Dann aber haben uns Kameraden gesagt: ,Wir haben euch falsch eingeschätzt, ihr seid anders.‘ Warum man uns übernommen hat? Eine Geste.“

Hauptmann Klaus Philipp, Flug- und Waffenlehrer, 32. „Nein, ich bin trotz meines Vaters, er hat eine hohe Funktion (General d.R.), kein Karriereoffizier. Ich werde bis 41 dienen, dann bei einer zivilen Fluggesellschaft einsteigen. Warum man diese Piloten überhaupt übernommen hat? Da sollten Sie meine Vorgesetzten fragen. Meine Einstellung? Normale Männer. Ich kann schließlich auch nicht sagen, was aus mir geworden wäre unter solchen Verhältnissen. Wichtig ist für mich die Überprüfung durch die Gauck-Behörde. Mit Stasi-Angehörigen hätte ich meine Schwierigkeiten. Wer sich dem Kommunismus immer noch zugehörig fühlt, hat in dieser Armee nichts zu suchen. Ich persönlich bin Mitglied der CSU, habe aber in anderen Staffeln Kameraden, die zu den Grünen oder der SPD gehören. Im großen ganzen bin ich positiv überrascht von den Neuen. Sie werden zurechtkommen. Ihre Verunsicherung ist noch groß. Sie werden hineinwachsen und passen sich auf jeden Fall gut an, fliegerisch und gesellschaftlich.“

Hauptmann Hess, Ex-NVA-Pilot, 34. „Bitterkeit? Nein. Wenngleich ich wieder am Punkt null angekommen bin nach insgesamt sieben Jahren Studium in der Sowjetunion. Mein Lebensentwurf in der DDR schien aufzugehen. Ich studierte zum zweiten Mal an der Generalstabsakademie der sowjetischen Streitkräfte in Moskau, war für eine höhere Laufbahn in der NVA, Perspektive Geschwaderkommandeur, vorgesehen, als die Wende in der DDR stattfand. Im Juni 1990 kehrte ich als Diplom- Militärwissenschaftler zurück und übernahm eine Staffel, die ich dann nur noch aufzulösen hatte. Fair sind sie wirklich hier. Nur, man ist verdammt einsam. Privaten Kontakt hatte ich in den Jahren nicht einen einzigen. Was schmerzlich war, manches Gerücht, zum Beispiel, daß wir nicht horizontal fliegen können. Aber ich verstehe schon. Wenn die Sache andersrum gelaufen und die Bundeswehr in die NVA integriert worden wäre, hätten wir uns nicht anders verhalten. Warum man uns überhaupt übernommen hat? Schwer zu sagen. Hoffnung? Daß ich aus dem Schülerverhältnis hier erfolgreich aussteige und als Pilot übernommen werde. Sonst keine mehr. Mein Vater war Melker, meine Mutter Kindergärtnerin.“

Bilder einer Vereinigung. Sonderbar wie das Szenario insgesamt. Militär zweier deutscher Staaten. Der eine Teil schon wiedermal geschlagen und damit weit mehr in der Tradition als der andere, siegreiche. Doch auch wieder gegen jede Tradition solches Benehmen. Denn aufs Volk geschossen hat die Volksarmee als erstes deutsches Heer in diesem Jahrhundert nicht. Vielleicht deshalb als Belohnung diese ritterliche Umarmung, die Vereinigung mit dem einstigen Feind. Zumal die Anzahl der Übernommenen nur symbolisch ist.

Zirka fünf Prozent des neuen deutschen Heeres kommen aus der alten Volksarmee. Und auch der Minister Rühe läßt keinen Zweifel wie er's mit der geschlagenen Proletenarmee wirklich hält. Alle ehemaligen Angehörigen der NVA sollen, so die ministerielle Verfügung, behandelt werden wie Soldaten fremder Streitkräfte. Ein Glück, daß der Schlaumeier solches erst jetzt von sich gibt. Dieses Zitat drei Jahre früher und die Vereinigung hätte so friedlich jedenfalls nicht stattgefunden.