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Gute Gründe fürs Fremdlesen

Vorgestern zog ich aus einem Stapel uralter Papiere das erste Protokollheft des Unionsverlags: Zur Verstärkung der internationalistischen Bande zwischen unserer Arbeiterklasse und der Befreiungsbewegung der Dritten Welt etc. etc. etc. begann ein Literaturprogramm, das sich sehr bald von der Pflicht zur Leidenschaft mauserte.

Der deutsche Literaturmarkt war damals eine weltliterarische Sahelzone, aber ein Schlaraffia für Programmacher. Man mußte nur einen türkischen Freund fragen, und die Namen seiner Literatur sprudelten. Kaum einen gab es auf deutsch. Mit dem Leuchtstift forstete ich die arabische Literaturgeschichte des Jahrhunderts durch und wählte nach Herzenslust, solange die kollektive Kasse reichte: Indische, nordafrikanische, persische, karibische Literatur, die Rechte für die halbe Weltliteratur lagen frei vor den wenigen Verlags-Winzlingen, die nach Süden blinzelten.

Denn es herrschte der Provinzialismus in seiner tristesten Form: der Unkenntnis.

Seither haben viele Verlage viele Autoren und viele Bücher zumindest zugänglich gemacht. Via Nobelpreise, Friedenspreise und Buchmessenschwerpunkte wurden die weißen Flecken auf der literarischen Weltkarte und in den Köpfen etwas angefärbt. In den Stunden, da man an den neuen, subtileren Verdrängungsmechanismen verzweifeln will, ist dieser Rückblick wohltuend.

Es gab immer viele Ursachen, warum der deutsche Literaturbetrieb keinen Faden zu den südlichen Literaturen finden wollte. Ein mickriger Kolonialismus führte nie zu jenen faszinierenden kulturellen, sprachlichen und geistigen Provokationen, wie sie jetzt den französischen und angelsächsischen Literaturbetrieb bereichern. Dann absorbierte die Teilung der Nation viele literarische Energien, und es scheint, daß nach der Selbstkolonialisierung der Nation durch Wiedervereinigung auch nicht viele Energien frei geworden sind.

In diesen Tagen, da die Kinderwagen brennen, ist es vielleicht wieder an der Zeit, auch in solidarischer Neugier zu lesen und lesen zu lassen.

Man erfährt von ausgezeichneten Schulprogrammen, um Vorurteile abzubauen. Wer denkt dabei an die Literatur? Gehören nicht Texte von Nuruddin Farah zur Vorbereitung jeder Diskussion über Somalia? Warum ist Yasar Kemals „Memed, mein Falke“ nicht im Grundbestand eines multikulturellen Lehrplans? Ist es denn denkbar, daß ein türkischer Roman, den von 8 bis 88 keine Leserin und kein Leser wieder vergißt, nicht Verständnis für Toleranz schafft?

„Er macht den Erdumfang 40.000 Kilometer kleiner“, schrieb eine Leserin zu einem Roman des Iraners Doulatabadi. Warum nutzen wir so wenig die Fähigkeit guter Literatur, die Längen- und Breitengrade auf Lesedistanz einzuschrumpfen? Lucien Leitess

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