Abenteuer- oder Antipädagogik?

■ betr.: "Mißbrauch oder beispielhafte Pädagogik?" (Der Konflikt um die "Story-Dealer AG"), taz vom 15.6.93

betr.: „Mißbrauch oder beispielhafte Pädagogik?“ (Der Konflikt um die „Story Dealer AG“),

taz vom 15.6.93

Es ist unglaublich, was da der Professor der Erziehungswissenschaften Heinrich Kupffer für einen Schwachsinn von sich gibt.

1. Angst gibt es ja schon überall auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft, also dürfen auch Pädagogen den Kindern gegenüber Angst als Methode einsetzen.

2. Da auch die Massenkultur auf Illusionen, Täuschungen und Unwahrheiten beruht, dürfen die Kinder auch von den „Story Dealern“ systematisch belogen und getäuscht werden.

3. Die Kritik an den „Story Dealern“, die die Kinder und Jugendlichen manipulieren und als Versuchskaninchen benutzen, wird einfach als „Eigentor“ denunziert.

4. Das sektenmäßige Vorgehen der „Story Dealer“ kann auch durch die Angebote der wechselnden Gruppen nicht einfach vom Tisch gefegt werden. Sekten zeichnen sich auch dadurch aus, daß ihre Führer ihre Lust durch Macht und einen eigensinnigen Umgang mit dieser Macht befriedigen.

[...] Kinder und Jugendliche, die die geschilderten Erfahrungen mit den „Story Dealern“ gemacht haben, sind später gewiß anfällig für andere obskure Gruppen und Sekten und werden ihre Befriedigung dann auch bei wirklichen Dealern suchen. Klaus-Peter Rückert,

1110 Berlin

[...] Während sich Prof. Dr. Heinrich Kupffer bemüht, pädagogische Antworten auf die Fragen, die die Reisen der „Story Dealer“ aufwerfen, zu geben und dabei die Argumente der KritikerInnen einzeln und sachlich einer kritischen Betrachtung unterzieht, wirkt Eberhard Schwartz mit seinen Vorwürfen, die das Niveau der Springerpresse unwesentlich übersteigen, ziemlich dumpf. Sein Fehler ist, daß er den Film „Schweinehund – Wir spalten dich“ als Grundlage für seine Kritik nimmt. Der Film zeigt aber nur einen minimalen Ausschnitt der gesamten dreiwöchigen Reise, nämlich die Geschichte um den Schweinehund. Daß die Kinder während der Reise oftmals – losgelöst von der inszenierten Geschichte – ihren eigenen Spielen und Beschäftigungen nachgingen, zeigt der Film aus dramaturgischen Gründen nicht, ebensowenig die pädagogische Arbeit, die die BetreuerInnen der „Story Dealer“ abseits des Geschehens leisteten. Daher ist eine Kritik der Reise, die sich ausschließlich an dem Film orientiert, schon vom Ansatz her falsch.

Eberhard Schwartz scheint sich in keiner Weise die Mühe gemacht zu haben, seine Vorbehalte zu überprüfen, sonst würde er nicht die Vorwürfe, die ich schon aus der oben genannten Presse kenne, ungeniert weiterverbreiten. Dazu gehört der Vorwurf, daß die Kinder durch das Vorenthalten von Essen gefügig gemacht wurden. Was der Film nicht zeigt: Während des nach dem „Motorschaden“ begonnenen Fußmarsches – übrigens ohne Gepäck, sondern nur mit Rucksack und Schlafmatte – trafen die Kinder im Wald „Mocca“, einen verkleideten „Story Dealer“, von dem sie Brot und Milch erhielten. Und Herr Schwartz verdreht den Ablauf der Geschichte einfach, um besser argumentieren zu können. Der Müller antwortet nicht auf die „Hunger, Hunger“-Rufe der Kinder mit den Worten: „Arbeitet, und ihr kriegt was zu essen“, sondern mit: „Wenn's euch nur ums Essen geht – ihr sollt essen, was ihr wollt, soviel ihr wollt“, und schickt sie zum Waldrand, wo auf einer riesigen Decke genügend Essen ausgebreitet lag. [...]

Die Eltern wurden – entgegen der Behauptung von Herrn Schwartz – über den Charakter der Reise informiert, und zwar im Vorfeld mit dem Hinweis, daß es sich um eine Abenteuerreise handelt und daß die Kinder eventuell schon die erste Nacht im Freien übernachten müssen und daher schon bei der Abfahrt festes Schuhwerk anhaben sollten, sowie die Eltern jedem Kind einen Rucksack (der oftmals vollgepackt war mit Essen, von wegen Hunger) und eine Schlafmatte mitgeben sollten. Nachdem der Bus losgefahren war, wurde jedem Elternpaar von einem Bezirksamt-Mitarbeiter noch an Ort und Stelle ein Brief übergeben, in dem die Eltern detailliert über den Ablauf der Reise informiert wurden. Dieses hat ein Vater auf einer Sitzung des Kreuzberger Jugendwohlfahrtsausschusses bestätigt.

Nicht eine breite, öffentliche Diskussion über Erlebnis-Pädagogik ist meines Erachtens nun das Wichtigste, sondern zuallererst die Beantwortung der Frage, wie es möglich ist, daß die „Story Dealer AG“ nach jahrelanger hochgelobter Freizeitpädagogik binnen kürzester Zeit von einem bestimmten Personenkreis in Kreuzberg als Kinderschänder und Horrorpädagogen verunglimpft werden konnten. Es ist mehr als bedenklich, wenn sich „fortschrittlich“ denkende Mitarbeiterinnen des Bezirksamtes solch konservativer Medien wie Sat.1, Morgenpost und BZ bedienen, um die „Story Dealer“ aufs Glatteis zu führen. [...] Günter Hartmann,

Erzieher in Kreuzberg

[...] 1. Die „Story Dealer“ betreiben Bindungspädagogik. Kinder sind ihnen „Erfüllungsgehilfen“.

2. Anstatt daß alle sich am Experimentieren und Regelnaushandeln beteiligen, wird mit Kindern experimentiert (Filmbeispiele).

3. Sogar in der Theaterpädagogik stehen die Regeln entweder aus Tradition fest und sind akzeptiert, oder sie werden offengelegt, zur Disposition gestellt. Das Theater war ja traditionell eine Übungsstätte für Verhaltensweisen – mit offenem Ende und in Öffentlichkeit. Augusto Boals „unsichtbares Theater“ simuliert nicht die Welt, sondern die Spielimpulse bleiben unentdeckt (ein strittiger Grenzfall des Theaters).

4. In der taz und andernorts der Heinz-Kupffer-Satz: „Angst ist kein Argument“ gegen pädagogisches Handeln. Aber ja doch: Alles, was da ist, kann thematisiert werden im pädagogischen Feld. Auch Angst.

5. Pädagogische Arbeit soll den Akteurs-Status stärken (Pierre Bourdieu), soll zur Disposition stellen helfen, EntTäuschungen und EntDeckungen machen. WiderWort und WiderSpiel: Das ist meine Parole! Und nicht das Bilden von „Rudeln“, wie die „Story Dealer“ erschreckend atavistisch (= Rückkehr zum Ahnentypus, wie das Lexikon erklärt) verlangen und zwingen! Prof. Dr. Gerd Koch,

Dipl.-Päd., FHSS,

1. Vorsitzender der Gesellschaft

für Theaterpädagogik e.V.

[...] Wer vermag bei dieser Kumulation von Egoquark und Pharisäertum noch das zu erkennen, was Kinder wirklich brauchen in unserer kaputten Erwachsenenwelt? In der sich die Tiefgelehrten, in ihrer elitär intellektuellen Arroganz, längst im Dickicht ihres eigenen Miefs verfangen haben und unfähig sind, Soziales als Herzensangelegenheit zu akzeptieren? [...]

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren /sind Schlüssel aller Kreaturen, / wenn die, so singen oder küssen, / mehr als die Tiefgelehrten wissen, / wenn sich die Welt ins freie Leben / und in die Welt wird zurückbegeben, / wenn dann sich wieder Licht und Schatten / zu echter Klarheit werden gatten / und man in Märchen & Gedichten / erkennt die wahren Weltgeschichten, / dann fliegt vor einem geheimen Wort / das ganze verkehrte (Herden-)Wesen fort.

Novalis! – Welch ein Glück, welch ein Sonnenstrahl zu all dem pädagogischen Unrat, der seit Wochen zum Thema Abenteuerpädagogik breitgetreten wird. Husarenritte auf dem Rücken des Zeitgeistes sind dabei ebenso ungeeignet wie verfänglich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ ist eben doch nur eine üble Halbwahrheit, die bekanntlich die größten Lügen sind, wie ein jüdisches Sprichwort verrät.

In Art. 1 unseres Grundgesetzes heißt es weiter: „...Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“! Das jämmerliche Versagen bei Durchführung dieses politischen Auftrages in unserer KonsumDemokratie hat dazu geführt, daß Politiker für ihre eigenen Kinder schon lange pädagogische Nischen in Anspruch nehmen, während das „Rudel“ der kindlichen Volksseelen planentsprechend – in der Nähe von Hameln – im Meer des Zeitgeistes ertrinkt, unter der „weisen“ Führung von tiefgelehrten Rattenfängern und pädagogischen Flötenspielern...

So setzt Familie Diepgen auf die 1919 von Rudolf Steiner begründete Waldorf-Pädagogik, während der Diepgen-Senat durch Herrn Kleemann im Juni 93 verkünden läßt, daß nun alle Berliner Kinder und Eltern – in Ost und West – sich über das einheitliche Schulsystem freuen dürfen.

Margot Honecker indes darf sich unter chilenischer Sonne der Wissenschaftlichkeit ihres pädagogischen Wirkens erfreuen, während zu Hause die Saat der Gewalt immer neue Blüten treibt. Wo Märchen „entgrimmt“ sind, Kinder wie Erwachsene gierig vermarktet und unter der Maske von Kunst und Pädagogik für alles mißbraucht werden, da wird man es letztlich noch begrüßen, daß die verantwortlichen Politiker, die ihre eigenen Kinder davor bewahren, für die anderen zumindest die psychiatrischen Anstalten ausbauen lassen (Am Waldhaus, Wenckebach etc.). – Denn wenn wir so weitermachen und die Freigabe der Kinderseele für die Interessen der freien Marktwirtschaft nicht beendet wird, „werden wir in Kürze eine Generation von Geisteskranken haben“. Eckhard Meyer-Hardy,

Berlin 41

„[Den] verlogenen und oft kaputten Alltagssituationen müssen solche als Alternative entgegengestellt werden, die auf Vertrauen und Ehrlichkeit beruhen...“ [...] Offenbar hält Herr Schwartz es für über alle Maßen wünschenswert, daß Erziehung und Realität – nicht zu verwechseln mit Wirklichkeit – möglichst weit voneinander entfernt sind. Die Frage, die sich mir da aufdrängt: Wie sollte ein Kind besser lernen, mit eben dieser verlogenen „Wirklichkeit“ umzugehen, wenn nicht dadurch, daß es das einigermaßen gefahrlos ausprobiert? Wie könnte ein Kind besser den Respekt vor den vermeintlichen „Geheimnissen“ und Widerwärtigkeiten der es umgebenden Realität verlieren, wenn nicht durch eigene Erfahrung?

„...Nach Holzhacken und anderen Arbeitsertüchtigungen dürfen sich die Kinder auf einen Tisch mit Junkfood stürzen und werden nun endlich für ihre Untertänigkeit belohnt.“ Eigentor: Die offensichtliche „Lehre“ ist doch wohl die Erkenntnis, daß viele lebensnotwendige Dinge – wie zum Beispiel Nahrung etc. – nicht vom Himmel fallen, insbesondere nicht in unserer „Gesellschaft“. Einzig in der Realität des Herrn Schwartz scheint dies anders zu sein – genießt er doch das Privileg, „Arbeit“ als „Untertänigkeit“ und „Motivation“ als „Pawlowschen Reflex“ ansehen zu dürfen.

Sicherlich wäre es erstrebenswert, Menschen zu selbständig denkenden Individuen zu erziehen, die die Besonderheiten in Herrn Schwartz‘ Realität auch in ihrer eigenen entdecken und Konsequenzen daraus für ihr eigenes Leben ziehen. So schön diese Vision auch ist: Es gibt keine größere Gesellschaft auf diesem Planeten, in der Erziehung zur Mündigkeit und nicht die Möglichkeit zur Kontrolle der Masse das eigentliche Ziel ist. Was liegt also näher, als Kindern im Spiel beizubringen, wie „verdreht“ alles um sie herum ist? [...] Wolfram Schlickenrieder,

Berlin 44

[...] Hunde richtet man ab, damit sie beißen, wenn man es ihnen befiehlt, und versetzt sie in Angst, damit sie dem Herren dienen, der ihnen zu fressen gibt. Wer Kinder so abrichtet, muß sich nicht wundern, eines Tages selbst gebissen zu werden oder Menschen vor sich zu haben, die als Wolf unter Wölfen nur noch mit den Wölfen heulen können, wenn sie nicht vorher schon unter ihren Tränen zerbrechen. Armin Emrich, Dipl.-Päd.,

Berlin 30

Ostern 1989: eine Kinderreise nach dem Konzept von Geißlinger & Co. Mir klingt es immer noch in den Ohren, wie einer der mitreisenden Story-Dealer uns anderen Betreuern immer wieder vorwirft, unsere Reise wäre „viel zu lasch“, und „die Kinder müßten noch viel mehr psychischen Druck erleben“. Dies ist das Holz, aus dem der Story-Dealer geschnitzt ist.

Keine Authentizität, keine Beziehung zu den Kindern und keine moralischen Werte dürfen den Ablauf der „Erholungsmaßnahme“ gefährden. Der Reiseverlauf mit seinen jeweiligen Auswüchsen der Story verleiht der Inszenierung eine innere Notwendigkeit und einen Sinn, der durch Mühsal, Angst und schlichtes „Funktionieren“ erkauft wird und so erst recht nötig und real zu sein scheint. Das Massenritual erweitert sich schnell zum Mythos.

Die Dr.-Geißlinger-Manipulation wird strukturiert durch die rituelle Unterstellung unter das „Rudel“, durch Lüge und Angst, durch Massenhalluzinationen und durch wiederkehrende okkultische Elemente. Schnell agiert die entpluralisierte Kindergruppe vollkommen gleichgeschaltet, und irgendwann gibt es dann dazu eine, mit über 1.000 Probanden empirisch bestens abgesicherte Dissertation. L.-G. Schima,

Dipl. Soz. Päd., Berlin 20

Der Artikel von Prof. Kupffer und die Arbeit der „Story Dealer“ sprechen für sich: Kinder dürfen aus pädagogischen Gründen angelogen werden, weil die Welt verlogen ist, und ihnen darf Angst gemacht werden, weil ihnen doch ihre Lebensumwelt auch Angst macht. Dies alles zum Wohl der Kinder, damit sie nicht länger der „banalen Alltagswirklichkeit der Massenkultur ausgeliefert“ sind. Es ist skandalös, daß solche „Pädagogik“ als innovativ bezeichnet wird und auch noch aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. [...] Bernhard Kreidl, Berlin 19

Pädagogische Erlebnis- und Wahrnehmungsinszenierungen sind erlaubt und erwünscht. Gerade weil die Kinder in der Gefahr stehen, vom Medium Fernsehen/Videogames unaufgeklärt zu bleiben, das heißt u.a. zwischen Realität und Mediengewalt nicht mehr unterscheiden zu können, sondern eins fürs andere setzen lernen, ist Differenzerfahrung gefordert!

Aufklärung bedeutet u.a. das Transparentmachen von Interessen/Inszenierungen. Wenn die „Story Dealer“ von der Erfahrung der Kinder „Medium = Wirklichkeit“ ausgehen, so benutzen sie diese in gefährlicher Weise. Was tun die „Story Dealer“? Sie treten jetzt praktisch aus dem Fernseher/ Video heraus, werden „handgreiflich“ und machen jetzt konkret mit den Kindern das, was sie wollen. Kinder werden wiederum entführt, in eine „andere Welt“ (diesmal mit „echten“ Angstgefühlen) –, verführbar sind sie ja bereits gemacht worden. Es geht inhaltlich um Sieg, Niederlage, Erlösung, Rudelbildung, Kampf! So werden die Kinder wiederum zu passiven Erleidern gemacht, ausgesetzt dem suggestiv vorgegebenen Spielplan ihrer „Entführer“.

Fragen: Wo bleibt der Handlungsspielraum für die Kinder? Was ist mit der Kritikfähigkeit? Dürfen sie auch Nein sagen, Widerstand zeigen? Wo werden sie aufgefordert, sich zu widersetzen, auszusteigen aus ihrer übergestülpten Rolle? Diese Fähigkeiten scheint der Inszenierungsplan der „Story Dealer“ nicht vorzusehen. Das ist das Entsetzliche – wie der Schweinhund-Film der „Story Dealer“ zeigt. Ulrike Erhard, Berlin 61

Als jemand, der mit „Story Dealern“ solch eine fragwürdige Reise schon mal mitgemacht hat, möchte ich feststellen, daß es sich keineswegs um einen guten Ansatz, der schlecht umgesetzt wurde, handelt (wie es die taz vermutet). Vielmehr ist es ein schlechter Ansatz, der perfide gut umgesetzt wurde und beweist, was möglich ist, wenn man sich denn nur Mühe gibt: die Inszenierung der Masse, in der die einzelnen sich bewegen, die sie jedoch nicht überschauen und aus der es kein Entkommen gibt.

Es handelt sich nicht um Abenteuerpädagogik, sondern um abenteuerliche Antipädagogik, nicht um innovative Jugendarbeit, sondern um ein riskantes und makabres Spiel mit der Verführbarkeit junger Menschen! Andreas Weigand, Berlin 22