: Wir schalten um
Das Buch „Switching Zapping“ von Hartmut Winkler präsentiert die erste theoretische Auseinandersetzung mit der Fernbedienung ■ Von Manfred Riepe
Das Fernsehzeitalter zerfällt in zwei Epochen, vor und nach der Erfindung der Fernbedienung. Es gibt so gut wie keine Angaben darüber, wie groß die Zahl derjenigen ist, die ein Programm noch zu Ende schauen. Gegen Ende der 80er Jahre erschienen eine Handvoll Zeitungsartikel zum Thema „Zapping“; eine umfassende Studie wurde bislang nicht in Auftrag gegeben. Was erstaunlich ist, da gerade die Werbebranche ein verstärktes Interesse am Thema haben müßte.
Nicht genervte Werbe-Umschalter sind jedoch die Klientel, die Hartmut Winkler in seinem hübsch aufgemachten Buch „Switching Zapping“ (Verlag Jürgen Häusser, Darmstadt) ins Visier nimmt. Sondern diejenigen, die das chronische Wechseln der Programme als systematische Freizeitbeschäftigung betreiben. Dem Wesen dieser Systematik möchte der Autor auf die Spur kommen. Sein Einstieg ist anregend: Die Massenpanik, die am 30. Oktober 1938 durch die Radioaustrahlung von Orson Welles' Hörspiel „The War of the Worlds“ in den USA ausgelöst wurde, konnte nur ausbrechen, weil die Leute bereits damals zwischen den Programmen switchten. Denn zu Beginn und am Ende der Hörstücks wurde der fiktionale Charakter offengelegt.
Mit derart originellen Evidenzen geht der Autor im weiteren allerdings sparsam um. Seine 165-seitige Abhandlung ist zwar unter dem Strich redlich, aber zäh. In Ermangelung einer bereits existierenden Debatte bzw. Theorie über „Switching“ krempelt Hartmut Winkler die Ärmel hoch, bastelt sich – interdisziplinär – ein eigenes Theoriegerüst zusammen und greift hierfür auf Film- und Kunsttheorie sowie am Ende auf die Psychoanalyse zurück. Die Arbeit gliedert sich in drei grobe Abschnitte, die untereinander wenig Bezug aufweisen. Der programmatischen Absage an eine empirisch ausgerichtete Untersuchungsmethode stehen rätselhafterweise Interviews zum Thema beiseite. Da jedoch auf diese Gespräche im folgenden nur selten eingegangen wird, hätte man sie weglassen können zugunsten jener Theorie-Partikel, die im Anschluß knapp gehalten sind.
Winklers Systematik leuchtet dennoch ein. Das Switchen wird zunächst in zwei Teilaspekte zerlegt, den Moment vor und den Moment nach dem Umschalten. Die wachsende Unlust, einen Film/ein Programm im ganzen wahrzunehmen, leitet der Autor aus der dem Bewegtbild eigenen Struktur ab. Da ein Film grundsätzlich mehr Information beinhaltet als beabsichtigt, gehen die Gedanken beim Zuschauen immer ein wenig spazieren. Diese sogenannte Überdeterminierung der Bilder wird zwar korrekt hergeleitet. Doch sind die von Winkler verwendeten kunsttheoretischen Termini (Kracauer/ Benjamin) zu unbeholfen, um die Tragweite des Gedankens in einen systematischen Kontext zu setzen. Inwiefern sich die Fernbedienung zum Komplizen der (Un?)-Lust macht – was zum Eingriff ins Programm, zum Wegschalten führt –, bleibt etwas nebulös.
Überzeugender bekommt Winkler den Moment nach dem Umschalten in den Griff. Jene Zehntelsekunde der Orientierungslosigkeit unmittelbar nach dem Umschalten ist eine „Überraschung“ und eine „kurzfristige Überforderung“. Vor dem Hintergrund von Benjamins „Schock“- Theorie wird diese Überforderung als kreatives Moment gewertet, weil hier kausale Abfolgen gebrochen und einer subjektiven Neuordnung zugänglich gemacht werden: ein „Gegenfilm“ im Kopf des Zappers.
Winkler entwickelt eine weitere Lesart, wonach dem Switchenden im ersten Augenblick nach dem Programmwechsels der „Sinn pur“ begegnet: Die erste Zehntelsekunde steht ohne Kontext da. Kontext bedeutet gemäß der von Winkler herangezogenen Informationstheorie Redundanz. Deswegen definiert die Informationstheorie die „reine Information“ als (weitgehend) zusammenhanglos.
Die Informationstheorie, die Sinn mathematisch quantifiziert, auf ästhetische Prozesse zu beziehen, erachtet Winkler zwar selbst als „schwierig“. Leider unterläßt er hier die theoretische Feinmechanik. Die Überraschungswirkung des für Bruchteile von Sekunden kontextlosen Bildes unmittelbar nach dem Umschalten wird daher mehr behauptet als logisch deduziert.
Winkler zitiert hier Schopenhauers fulminanten Satz, gemäß dem der Schock für einen Augenblick das Gefüge der Kausalität außer Kraft setzt. Mit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen steht die Zeit im Staunen still.
Daß sich der Zapper via Fernbedienung derartig dosierte „Schocks des Staunens“ verabreicht – und somit seinen Gefühlshaushalt nach unbewußten Mechnismen (die Winkler leider nicht klar auf den Punkt bringt) reguliert, ist zwar ein spannender Ansatz. Doch da der Autor sich aufgrund seines etwas stumpfen kunsttheoretischen Erklärungs-Instrumentariums oft in umständlichen Herleitungen verausgabt, bleibt ihm an entscheidenden Punkten die Puste weg. So kommt Winkler am Ende zu einem Ergebnis, das aufgrund der vorangegangenen theoretischen Schwerarbeit eher wie ein Kompromiß klingt:
In einem arg verkürzten Rückgriff auf Freuds komplexe Konzeption des psychischen Apparates in der „Traumdeutung“ erläutert er, daß „herkömmliches“ Fernsehschauen zerstreuend und daher eher traumartig diffus ist. Man dumpft dahin, was Winkler mit den Freudschen Mechanismen der Traumarbeit parallelisiert. Durch das Switchen wird nun ein der träumenden Projektion entgegengesetzter Impuls losgelassen: Außenwahrnehmung, Schock, Überraschung, Aufschrecken, Faszination – diese Momente ordnet Winkler eher dem die Konzentration fokussiereden Kinoerlebnis zu. Switching mache insofern Fernsehen, das gewöhnlich zerstreuend ist, zu einem gebündelten Erleben totaler(er) Aufmerksamkeit. Ob allerdings die Absorbierung der Aufmerksamkeit des Subjekts vor der Kinoleinwand ästhetisch höherwertig sein soll, ist zumindest anzweifelbar.
Das beste am eigenen Ansatz vergibt sich Winkler: Sofern jeder Traum, so Freud ausdrücklich, eine Wunscherfüllung ist und der Zapper sich selbst periodisch aus seinem Traum katapultiert, zieht er das periodische Aufwachen/ Aufschrecken durch selbstverabreichte „mentale Stromschläge“ demjenigen Grauen vor, das ihn ereilt, wenn er bewußt realisiert, daß seine (Traum-)Wünsche in den Bildwelten dieses Fernsehprogrammes nicht mehr erfüllbar sind.
Doch statt hier naheliegende Fragen bezüglich des ökonomischen Problems des Zapp-Masochismus konkreter zu entfalten, rekonstruiert Winkler zu Freuds überprüfbarer Systematik vollkommen quer liegenden Theorie- Sperrmüll von Alfred Lorenzer, Susanne Langer und Uwe Gaube, daß es einem die Schuhe auszieht. Insgesamt trotzdem eine gewinnbringende, inspirierende Arbeit, die einen beim Lesen nicht gleichgültig läßt. Übrigens: In der Petra figurierte Zapping unlängst als einer der Hauptgründe dafür, was nach Meinung befragter Frauen eine Partnerschaft zerrüttet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen