: Alte Denkstrukturen verhindern ganzheitliche Sicht
■ Workshop über Psychotherapie bei Multipler Sklerose
Gegensätzliche Meinungen prallten aufeinander, als vor zwei Wochen achtzig Fachleute in Herdecke über Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie bei Multipler Sklerose (MS) diskutierten. Zu dem eintägigen Workshop hatte das anthroposophisch orientierte Gemeinschaftskrankenhaus, die Universität Witten-Herdecke und die Stiftung Lebensnerv eingeladen.
Der Medizinsoziologe an der Universität Göttingen, Hannes Friedrich, betonte die Bedeutung psychosozialer Faktoren für die MS-Entstehung und den MS-Verlauf. Er erläuterte, daß es über den MS-Ursprung viele widersprüchliche Studien gebe. Bislang sei alles unklar, und selbst die lange favorisierte Virus-Theorie beginne neuerdings „wackelig“ zu werden. Noch entschiedener vertrat der Kieler Psychiater und Psychosomatiker C. Bahne Bahnsen die Meinung, daß neben genetischen Faktoren die Ereignisse und Erfahrungen der Betroffenen ausschlaggebend für die MS-Entstehung sind. Nach seinen Beobachtungen sei vor allem die Mutterbeziehung der Betroffenen problematisch. Mit Hilfe von Psychotherapie ließen sich die Probleme jedoch häufig lösen. Bei seinen Arbeiten über Psychoneuroimmunologie habe er festgestellt, daß sich das Immunsystem durch Psychotherapie beeinflussen lasse. „Alles ist vernetzt. Die Systeme sprechen miteinander“, sagte Bahnsen und ermutigte seine KollegInnen, ihre MS-PatientInnen psychotherapeutisch zu behandeln.
Im Gegensatz dazu warnte der Neurologe Klaus Euteneuer von der Hardtwaldklinik in Bad Zwesten davor, bei den PatientInnen zu hohe Erwartungen zu wecken. Durch Psychotherapie ließe sich der Krankheitsverlauf keinesfalls beeinflussen. Sie sei lediglich geeignet, die PatientInnen mit ihren zunehmenden Beeinträchtigungen zu begleiten.
Als die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Irene Misselwitz, aus Jena die psychotherapeutische Behandlung einer MS-Patientin schilderte, wurden die Gegensätze im Saal besonders kraß spürbar. Misselwitz stellte anschaulich den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Lebenssituation der jungen Frau und ihrem psychischen und körperlichen Befinden dar. Daraufhin bezweifelte Eberhard Jügelt, Chefarzt einer neurologischen Spezialklinik im Sauerland, sogar ihre neurologischen Diagnosen.
Ulrich Schultz-Venrath, Neurologe am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke, wertet diese Reaktion als Abwehr einer ganzheitlichen Sichtweise. „Die Kollegen haben Angst davor, mit ihren MS- Patienten eine so verbindliche Beziehung einzugehen wie Irene Misselwitz“, meint er. Die Abwehr stehe außerdem im Zusammenhang mit einem stark verdrängten Thema: „Ohne daß es direkt angesprochen wurde, beherrschte das Thema Euthanasie große Teile der Diskussion“, resümiert er. Er weiß, daß viele ÄrztInnen auch heute noch – unbewußt natürlich – die Denkstrukturen der NS-Zeit verinnerlicht haben: Wenn eine Krankheit nicht heilbar ist, dann sollte man die Betroffenen euthanasieren. Die Euthanasie stehe in direktem Zusammenhang mit der Krankheit MS: Schließlich habe im NS-Propagandafilm „Ich klage an“ eine MS-Betroffene die Hauptrolle gespielt. „Und deren Euthanasie wurde als Lösung für alle Beteiligten gefeiert“, erläuterte Schultz-Venrath. Sigi Arnade
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen