piwik no script img

Nebenwirkungen jahrelang übersehen

Neue Studien erhärten Verdacht auf Gefährlichkeit der Chorionzottenbiopsie / Fehlbildungen bei Neugeborenen sind doch häufiger als bisher angenommen  ■ Von Claudia Schulze

Christine F. war 35 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Doch in ihre anfängliche Freude mischten sich zunehmende Zweifel. In Gesprächen mit FreundInnen und Verwandten tauchte immer wieder das Wort „Risikoalter“ auf. Die von ihr konsultierte Frauenärztin verunsicherte sie noch weiter. Ja, mit steigendem Alter erhöhe sich das Risiko, ein Kind mit chromosomalen Abweichungen, insbesondere dem Down-Syndrom, zur Welt zu bringen. Frauen ab 35 Jahre zahle die Krankenkasse auch eine Untersuchung, durch die ein solcher Befund festgestellt werden könne. Gegebenenfalls könne dann ein Schwangerschaftsabbruch nach eugenischer Indikation durchgeführt werden. Die Untersuchung selbst berge zwar das Risiko einer unbeabsichtigt ausgelösten Fehlgeburt, aber einer Frau in Christines Alter sei der Test dringend zu empfehlen.

Christine F. befand sich in großen Konflikten, hin- und hergerissen zwischen der Freude auf das Kind, vagen Ängsten vor einer möglichen Behinderung und der konkreten Angst vor einer Fehlgeburt. Nicht zuletzt aufgrund des Drängens ihrer Familie entschloß sie sich schließlich doch zu dem Test.

Zwei Möglichkeiten standen zur Wahl: Eine Fruchtwasseruntersuchung in der 16. Schwangerschaftswoche, deren Ergebnis dann erst in der 20. Woche vorliegt, oder eine Chorionzottenbiopsie, die bereits ab der siebten Schwangerschaftswoche durchführbar ist und deren Befund schon zwei Wochen später feststeht.

Christine F. wählte die Chorionzottenbiopsie, um möglichst schnell Bescheid zu wissen. Tapfer bemühte sie sich, über den Hinweis ihrer Ärztin, dieser Test habe ein im Vergleich zur Fruchtwasseruntersuchung mehrfach höheres Fehlgeburtsrisiko, nicht länger nachzudenken.

Sie unterzog sich dem Test in der neunten Schwangerschaftswoche. In ihre Gebärmutter wurde ein dünner Katheter eingeführt und einige Milligramm Chorionzotten (kindliches Plazentamaterial) abgesaugt. Christine F. schien Glück zu haben. Es gab keinerlei Anzeichen einer beginnenden Fehlgeburt. Und groß war ihre Freude, als sie zwei Wochen später das Ergebnis des Labors erhielt: Kein Hinweis auf eine mögliche Behinderung des in ihr heranwachsenden Kindes.

Was allerdings weder ihr noch der Ärztin bekannt war: Die neunte Schwangerschaftswoche ist ein hochgefährlicher Zeitpunkt für die Durchführung einer Chorionzottenbiopsie. Ein Verdacht, der vor wenigen Jahren in Fachkreisen noch heftig bestritten wurde, bestätigt sich inzwischen durch zahlreiche neue Studien: Insbesondere bei Kindern, deren Mütter den Test vor der zehnten Schwangerschaftswoche durchführen ließen, treten vermehrt Fehlbildungen der Gliedmaßen auf.

Die Genetikerin Helen Firth vom Churchill Hospital in Oxford war die erste, die den sich häufenden Berichten in einer systematischen Studie nachging (vgl. taz vom 14.8.92). Von 289 Kindern, deren Mütter sich einer Chorionzottenbiopsie vor der zehnten Schwangerschaftswoche unterzogen hatten, zeigten fünf schwere Fehlbildungen an den Gliedmaßen, vier von ihnen wiesen zusätzliche Gesichtsdeformationen auf. Solche Fehlbildungen treten normalerweise nur bei 5,4 von 10.000 Neugeborenen auf. Die Rate von 1,7 Prozent in der Oxford-Studie ist somit erschreckend hoch.

Trotz dieser Zahlen waren andere WissenschaftlerInnen weiterhin skeptisch, vermuteten sogar unbekannte Umweltschadstoffe, die in der Oxforder Region zu einer solchen Fehlbildungshäufung führen könnten. Hatten nicht kanadische und europäische Studien in den 80er Jahren an mehreren tausend nach einer Chorionzottenbiopsie geborenen Kindern keinerlei Hinweis auf höhere Fehlbildungsraten gegeben?

Judy Hall von der British Columbia Universität in Vancouver sah sich die Kinder aus der kanadischen Studie noch einmal genau an. Zu ihrer großen Bestürzung stellte sie fest, daß zwei von ihnen, die ursprünglich als unauffällig diagnostiziert worden waren, ebenfalls die typischen Fehlbildungen aufwiesen.

Die gleiche Entdeckung machte Kypros Nicolaides vom Kings College in London: Auch in der hier durchgeführten Studie waren mindestens zwei Kinder mit Fehlbildungen schlicht übersehen worden.

Bruno Brambati aus Mailand, in den 80er Jahren einer der Vorreiter bei der breiten Etablierung der Chorionzottenbiopsie, legte im letzten Jahr eine weitere Studie vor, die diese alarmierenden Ergebnisse bestätigte. Von 249 untersuchten Kindern, deren Mütter den Test vor der siebten Schwangerschaftswoche durchführen ließen, wurden vier mit Fehlbildungen geboren. Helen Firth, die inzwischen über 50 Kinder mit Gliedmaßendeformationen nach einer Chorionzottenbiopsie untersuchte, fand eine starke Korrelation: Je früher der Test, desto schwerer war auch die mögliche Schädigung.

Diese und andere Ergebnisse wurden den TeilnehmerInnen eines von der CIBA Foundation veranstalteten Treffens im Dezember letzten Jahres vorgestellt. Erschreckender Konsens war, daß bei einer Chorionzottenbiopsie zumindest vor der zehnten Schwangerschaftswoche eine Schädigung des werdenden Kindes nicht ausgeschlossen werden kann.

Doch eine Studie aus Chicago sorgte für weitere Unruhe. Hier zeigten unter 394 Kindern 13 Fehlbildungen, vier von ihnen die inzwischen typischen Fehlbildungen an den Gliedmaßen. Doch das Erstaunliche: Die Mütter dieser Kinder hatten die Chorionzottenbiopsie zwischen der 9,5. und 11. Schwangerschaftswoche durchführen lassen, ein bisher als „sicher“ geltender Zeitpunkt.

Wie es durch die Untersuchungen zu den Fehlbildungen kommen konnte, bleibt Spekulation. Liegt es an der Methode – der Eingriff wird entweder durch die Vagina (transcervikal) oder durch die Bauchdecke (transabdominal) durchgeführt –, am unterschiedlichen Geschick der ÄrztInnen oder an anderen, bisher unbeachteten Faktoren? Die amerikanische Food and Drug Administration zog inzwischen Konsequenzen. Sie erklärte, daß Chorionzottenbiopsie-Katheter nicht vor der zehnten Schwangerschaftswoche benutzt werden dürften. Andere Länder halten sich bisher zurück.

Dramatisch ist die Situation allemal. Zuzugeben, daß eine seit Jahren an weltweit vielen tausend Frauen durchgeführte Untersuchung, die zur im übrigen ethisch äußerst umstrittenen Diagnostik von fetalen Erbkrankheiten eingesetzt wurde, selbst eine hohe Rate an Fehlbildungen verursacht, fällt den meisten WissenschaftlerInnen nicht leicht.

Christine F. fühlt sich nach dem Test schlechter als vorher. Hatte sie gehofft, daß die Untersuchung ihr Ängste nehmen könne, muß sie nun feststellen, daß das Gegenteil eingetreten ist: Die neue Angst, ihr werdendes Kind gerade durch den Test geschädigt zu haben, ist nur schwer beiseitezu drängen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen