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Die Jason-Thomas-Saga Von Andrea Böhm

Idole findet man in den USA in der Raumfahrt, auf dem Footballplatz oder im Fernsehen – aber nicht im öffentlichen Nahverkehr. Zwar sind US-Busfahrer nach meiner bescheidenen Erfahrung immer noch Lichtjahre von der Unfreundlichkeit ihrer Berliner Kollegen entfernt, aber die Kommunikation zwischen Fahrgast und Personal zeichnet sich auch nicht durch übermäßige Herzlichkeit aus. Für heldenhaftes Verhalten bieten sich kaum Anlässe.

Was den U-Bahn-Betrieb angeht, so kommt es auf den geographischen Standpunkt an. In San Francisco und Washington rühmt man sich einer relativ neuen und modernen Anlage mit raffiniert ausgetüftelten, Fahrkarten ausspuckenden Automaten, geräuscharmen und geräumigen Waggons. In New York hingegen ist die Untergrundbahn in den Augen der meisten Benutzer ein lautes, geruchsintensives Transportmittel, dessen Türschlußautomatik Ähnlichkeit mit einer Guillotine hat. Im Sommer gleichen Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf den meisten Bahnsteigen der Vorhölle. Entsprechend wenig Enthusiasmus versprüht das Personal bei der Arbeit.

Ergo waren die New Yorker perplex und gerührt, als Licht am Ende des U-Bahn-Tunnels auftauchte – in Gestalt von Jason Thomas aus Brooklyn, der in seinem Leben nichts anderes tun will, als möglichst viele New Yorker U-Bahn-Passagiere möglichst zuvorkommend und höflich durch die Stadt zu fahren. Jason ist erst sechzehn Jahre alt. Doch nach ausgiebiger Lektüre einschlägiger Handbücher und ausgiebigem Herlumlungern in der Nähe der Fahrerkabinen fühlte er sich am 8.Mai reif, um das nötige Fahrerwerkzeug samt Identifikationsmarke zu klauen, sich am Endbahnhof an der 207.Straße für die Tagesschicht einzutragen und den A-Train von Inwood über Manhattan, Brooklyn nach Queens und wieder retour zu fahren. Thomas absolvierte 85 Haltestellen, hielt im Gegensatz zu vielen echten Zugführern den Fahrplan auf die Minute ein und beförderte insgesamt über 2.000 Fahrgäste. Bei einer Routinekontrolle flog der Schwindel leider auf und Thomas' hoffnungsvoll begonnene Karriere als Zugführer endete mit einer Anklage, die ihm bis zu sieben Jahren Haft einbringen konnte.

Nun war der Junge aus Brooklyn längst zum Volkshelden geworden und auch bei der Staatsanwaltschaft war man eher erleichtert, daß hier ein Sechzehnjähriger aus Passion Züge entführt und sie wieder zurückbringt, anstatt Autos zu entführen und sie zu Schrott zu fahren. Also beließ man es bei drei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung. Inzwischen haben die ersten Produktionsgesellschaften bereits eine Verfilmung der „Thomas- Saga“ vorgeschlagen. Der New Yorker „Transit Authority“ hingegen wurde von leidgeprüften U-Bahn-Benutzern angeraten, solche Jahrhunderttalente wie Jason gefälligst sofort einzustellen, anstatt sie bei der Polizei anzuzeigen. Volkes Stimme wird Gehör finden: Die Behörde hat erklärt, daß der Teenager trotz seiner unkonventionllen Art, Berufserfahrung zu sammeln, einen Ausbildungsplatz erhalten soll – vorausgesetzt, er klaut in den nächsten drei Jahren keine Züge mehr. Der hingegen erklärte ungerührt, er brauche keine Lehrzeit. „Ich weiß schon, was ich tue.“

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